Als berufstätige Mutter von drei Kindern hatte ich, als sie noch kleiner waren, meinen Alltag gut durchstrukturiert und mit Leichtigkeit gewuppt. Ich habe ein Talent dafür, kleinste Zeitfenster zu entdecken, in denen ich schnell zwischendurch etwas erledigen kann. Zum Beispiel eben noch die Waschmaschine programmieren und die Spülmaschine starten während die Kartoffeln kochen. Oder was auch gut geht ist Gemüse schnippeln beim Telefonieren, man darf nur kein ganz scharfes Messer nehmen. Beim Hochgehen in das Obergeschoss habe ich immer ein Wäschestück oder etwas anderes mitgenommen, das ich vorher unten auf den Treppenstufen vorsorglich deponiert hatte. Und bei der Arbeit im Büro liegt es mir, Prozesse vorab zu durchdenken und Arbeitsabläufe so zu gestalten, dass ich hinterher weniger Aufwand habe und sich dadurch dann wieder ein größeres Zeitfenster öffnet für die nächsten anstehenden Aufgaben.
Manchmal bin ich natürlich auch ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen. So habe ich zum Beispiel beim Mittagessen schon mal meinen Teller und die leere Soßenschüssel mit in die Küche genommen, wenn ich aufgestanden bin um neues Mineralwasser zu holen. Meine Familie hat mir hin und wieder deutlich gespiegelt, dass das ungemütlich wirkt, wenn ich sowas mache, obwohl sie noch am Essen oder Erzählen sind. Folglich habe ich versucht das abzustellen, saß aber manchmal wie auf Kohlen: es gab ja immer so viel zu tun.
Unsere Jungs sind mittlerweile aus dem Haus und ich investiere mehr Zeit in meine persönliche Bildung und nicht mehr in die der Kinder. Dabei entdecke ich ständig neue spannende Herausforderungen und Denkansätze für Veränderungen. Da war zum Beispiel das ganzheitlich ausgerichtete Sehtraining, an dem ich teilgenommen habe. Seitdem mache ich morgens im Pendlerzug, wenn ich mit der Zeitung fertig bin, die Augen zu und trainiere die Augenmuskulatur. Das Zeitfenster dafür ist morgens im Zug gut verortet. Wenn ich die Augen geschlossen habe merkt ja keiner, dass ich sie merkwürdig bewege. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Büro warte ich jeden Morgen ziemlich lange vor einer Ampel mit einer nicht logisch zu erklärender Schaltung. Da trainiere ich dann, statt mich über die Ampel zu ärgern, meine Beckenbodenmuskulatur. Auch das merkt ja keiner. Und so oder so ähnlich nutze ich effektiv den ganzen Tag über verschiedene Zeitfenster ohne groß darüber nachzudenken.
Das Nachdenken, was ich denn da eigentlich tue und ob es immer gut ist, viele Dinge mal eben schnell zwischendurch zu erledigen hat, wie so vieles in letzter Zeit, mal wieder seinen Ursprung in meinem Zink Unterricht. Ich arbeite immer noch daran, verlässlich einen akzeptablen Klang hinzubekommen. Ein Teil der Theorie zur Entstehung eines richtig schönen und runden Klanges beim Zink ist – soweit ich das bisher verstanden habe – dass der Mundraum möglichst groß und weit gezogen wird, die Muskulatur dabei aber noch flexibel bleibt um den Klang in alle möglichen Dimensionen (höher, tiefer, lauter, leiser, heller, dunkler) färben zu können.
Es gilt also, das Volumen der Mundhöhle maximal zu nutzen. Dazu gibt es ein paar Übungen, bei denen man aber besser nicht in den Spiegel schauen sollte, auch wenn der Lehrer das vielleicht empfiehlt. Ich habe das einmal vor dem Spiegel gemacht und war doch sehr erschrocken, wie selten dämlich das aussieht, wenn ich den Unterkiefer weit, also wirklich ganz weit, nach unten und leicht vorne ziehe, gleichzeitig die Augen aufreiße, erstaunt gucke, die Nasenwurzel gedanklich breiter werden lasse und versuche, den Gaumen irgendwie hochzuziehen. Vor dem Spiegel Üben geht gar nicht, daher trainiere ich diese Gesichtsakrobatik auf der Autofahrt morgens zum Bahnhof. Außer Autofahren mache ich da ja sonst nicht viel anderes und es sieht mich auch keiner. Das Zeitfenster dafür ist dort also gut verortet.
Das mit dem Gaumen-irgendwie-hochziehen ist im Augenblick übrigens der Punkt, an dem ich mich abarbeite. Das Gefühl soll so ähnlich sein, als wenn ich beim Singen einen Ton in die Kopfstimme hochziehe. Ich habe mich bislang erfolgreich geweigert, dies meinem Lehrer im Unterricht nachzumachen und behaupte einfach glaubhaft, dass Bilder aus dem Gesangsunterricht bei mir nicht funktionieren. Allerdings taste ich mich doch insgeheim abends im Auto auf der Fahrt vom Bahnhof nach Hause langsam an diese Technik heran. Ich drehe die Musik laut und jaule (singen möchte ich das nun wirklich nicht nennen) enthusiastisch so hohe Töne wie ich nur kann. Hört ja keiner, passt also gut da hin.
Dumm nur, dass ich mich gestern in meinen Zeitfenstern sozusagen verirrt habe. Morgens im Zug habe ich wie immer nach dem Zeitunglesen die Augen zugemacht. Aber anstatt dann das Augentraining zu beginnen bin ich irgendwie in den Übungsablauf zur Vergrößerung des Mundraumes geraten. Erstaunt gucken geht auch mit geschlossenen Augen, habe ich festgestellt. Meine beiden Gegenüber im Zug müssen mich allerdings ziemlich entgeistert angesehen haben bei meiner Übung. Das war noch deutlich wahrzunehmen als ich die Augen wieder aufgemacht habe. Bloß gut, dass ich nicht aus Versehen meine „Gaumen-irgendwie-hochziehen“ Übung gemacht und hoch und laut herumgejault habe zu Whitney Houstons „I will always love you“, das bei meiner Sitznachbarin aus den Ohrstöpseln tönte. Und auch gut, dass ich nicht aus Versehen mal mein Augentraining bei einer Autofahrt eingebaut habe.
Also, was mache ich da eigentlich und warum verzettele ich mich so extrem den ganzen Tag über in kleine Zeitfenster, die ich irgendwo verorte um dann möglichst effizient mehrere Dinge gleichzeitig erledigen zu können? Die freie Zeitspanne, die ich mir durch mein Zeitmanagement eigentlich irgendwo und irgendwann erwirtschaften müsste, habe ich jedenfalls noch nicht entdecken können. Und ich glaube, mein alter Yoga-Meister Rama würde die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen wenn er erfährt, was ich so treibe. Mit Achtsamkeit, also einem bewussten Dabeisein bei dem, was man gerade tut, hat das irgendwie nicht mehr viel zu tun.
Daher nehme ich mir vor, diese ganze Zeitfenstergeschichte loszulassen und mich fortan wieder mehr auf das zu konzentrieren, was ich gerade tue. Ich werde also Auto fahren, wenn ich Auto fahre, maximal Zeitung lesen oder schlafen wenn ich im Zug sitze, bei der Arbeit nur arbeiten und nicht auch noch denken, den Tisch erst abräumen wenn wir mit allem fertig sind und mich morgens an der Ampel ganz bewusst über die nicht verkehrsgerechte Schaltung ärgern. Und wenn ich Zink übe, dann mache ich eben nur das, aber dafür ganz konzentriert und mit allem an Gejaule und Gesichtsakrobatik was da so zugehört.
Ich hoffe nur, ich falle jetzt nicht irgendwie in ein anderes Extrem …