Kürzlich habe ich meine Brille vermisst. Sie lag nicht in dem Regalfach, wo ich sie normalerweise hinlege. Ich habe einige Zeit vergeblich nach ihr gesucht, bis ich sie schließlich auf meiner Nase gefunden habe. Das mag nun an meinem Alter liegen, bei der Gelegenheit habe ich aber gemerkt, dass es mir wichtig ist, dass Dinge an ihrem richtigen Platz sind und alles seine Ordnung hat.
Wenn es geht, buche ich mir für Veranstaltungen oder auch längere Zugfahrten einen festen Sitzplatz. Unerfreulich wird es dann, wenn bei der Bahn der Wagen, in dem mein Platz sich befindet, gesperrt ist und ich dann doch zeitweilig stehen muss. Bei Konzerten habe ich es schon erlebt, dass wegen zu geringer Nachfrage in bestimmten Sitzplatzbereichen die Reservierungen dort vor Ort aktuell aufgehoben werden und man in diesem Bereich freie Sitzwahl hat. Gut, wenn man dann früh genug da ist, um sich einen vernünftigen Platz auszusuchen und man nicht hinter einer Säule oder auf einem unbequemen Klapp-Zustell-Stuhl Platz nehmen muss.
Es ist uns auch schon mehrmals passiert, dass die von uns digital reservierten Plätze gar nicht existieren. Die Nummerierung der Reihen in einem Konzert in Bingen im Sommer 2019 ging z.B. bis einschließlich 10 und danach mit 15 weiter. Unsere Plätze sollten in Reihe 12 sein, die gab es aber gar nicht. Erst waren wir ein wenig verärgert, zumal wir 500 km weit gefahren waren, um dieses Konzert zu hören. Es hat sich aber alles in Wohlgefallen aufgelöst. Wir haben extra bequeme Sitzplätze mit guter Akustik und Sicht und Gratis-Prosecco in der Pause bekommen und sind mit dem Ehepaar, das die Plätze neben uns gebucht hatte, wunderbar ins Gespräch gekommen. Dabei stellte sich heraus, dass wir beiden Frauen relativ zeitgleich angefangen hatten, Zink zu lernen und die beiden Männer stoisch und ergeben die Geräusche ertrugen, die wir seinerzeit noch beim Zinken erzeugt haben. Die Männer hatten dann noch die Idee zur Gründung einer Selbsthilfegruppe für nahe Angehörige von Zink-Lernenden. Wir Zinkenistinnen halten seitdem unsere Verbindung aufrecht, tauschen uns gerne und intensiv aus und verabreden uns für Workshops und Kurse.
In meinem Alltag habe ich in der Küche alle Utensilien, die ich zum Kochen und Backen brauche, genau an der Stelle wo sie immer sind, damit ich mir nicht jedes Mal wieder erneut mühselig alle erforderlichen Dinge zusammensuchen muss. Und auch an meinem Arbeitsplatz erleichtert es mir meine Tätigkeit, wenn Locher, Tacker und Kugelschreiben griffbereit an ihrem Platz liegen.
Es begegnen mir aber häufig Dinge, die nicht an ihrem richtigen Platz sind. Das kann ein kleines Steinchen sein, das vom Spazierweg irgendwie in meine Sandale geraten ist, eine Hinterlassenschaft eines Hundes auf unserer Auffahrt oder eine Mücke in unserem Schlafzimmer.
Letzte Woche bin ich in unserem Garten in kürzester Zeit gleich mehrfach hintereinander auf Sachen gestoßen, die da so nicht hingehören. Erst wäre ich beim Wäscheaufhängen fast barfuß auf eine lange braune Nacktschnecke getreten, die ich erst im letzten Augenblick gesehen habe. Bei der Vorstellung, wie der Schneckenschleim zwischen meinen nackten Zehen glibbert, ist mir noch im Nachhinein ein wenig unwohl zumute. Dann wäre ich beim Brombeeren-Naschen fast auf eine tote Maus getreten, die vor den Brombeerranken im Gras lag. Zwei Tage später hatten sich in meiner Holunderbeerernte kleine Schneckchen verborgen, die ich beinahe übersehen und mitentsaftet hätte. Ich konnte sie gerade noch in den rettenden Holunderabfall übersiedeln. Und zu guter Letzt habe ich in einem unserer Buchsbäume ein Exemplar des gefräßigen Buchsbaumzünslers entdeckt.

Wie gut, dass ich mich aus unserem „gefährlichen“ Garten in mein Übezimmer zurückziehen und zinken kann. Aber auch beim Zinken stolpere ich ja eigentlich permanent über unpassend platzierte Geräusche und muss Dinge an die richtige Stelle rücken. Töne, Rhythmus und Intonation habe ich ja sowieso passgenau auszugestalten. Nun muss ich aber seit neuestem auch noch Diminutionen, also Verzierungen sehr genau platzieren. Verstanden habe ich das so, dass ich gar nicht die Wahl habe, ob ich grundsätzlich verzieren möchte oder nicht. Die Entscheidung ist mir bei einer historisch informierten Spielweise bereits dahingehend abgenommen, dass ich diminuieren muss. Es gibt da einige Regeln zu beachten und man kann viel falsch machen. Derzeit versuche ich noch, zunächst einmal zu definieren, ob ich mich mit meiner Stimme bei einer Kadenz in der Sopranfortschreibung befinde oder aber in der Alt-, Tenor- oder Bassklausel. Wenn ich das dann richtig enträtselt habe, kann ich mir von einfachen, kurzen bis hin zu langen und höchst komplizierten Diminutionen für die jeweilige Kadenzfortschreibung eine passende fertige Floskel aussuchen oder mir selber – unter Beachtung aller Regeln – was ausdenken und das so an der richtigen Stelle platzieren, dass idealerweise sowohl die Mitspieler als auch ich selber wissen, wo ich mich rhythmisch und harmonisch gerade befinde. Gar nicht so einfach. Derzeit verlaufe ich mich noch manchmal und lande irgendwo anders und nicht auf dem angepeilten Zielton. Es gibt auch nicht nur ein einziges Richtig. Je nach Stück, Geschmack, Mut, Spieltechnik, Geschwindigkeit der Doppelzunge, Tagesform oder auch der Diminutionsfreudigkeit der Mitspieler kann ich eine Stelle immer wieder anders verzieren.
Anregungen für Diminutionsideen hole ich mir derzeit in den wunderbaren Motetten von Bartolomeo Barbarino. Er hat bereits im Jahr 1614 als Hilfestellung für mich und alle, die sich so wie ich mit dem Verzieren schwertun, in seinem „Zweiten Buch der Motetten“ seine Melodien einmal in der unverzierten schlichten Form (Semplice) niedergeschrieben und dann mit Diminutionen, wie er sie sich vorstellt (Passagiato).

Kürzlich habe ich ein Konzert gehört, in dem der Zinkenist seinen Part teilweise bewusst schräg und irgendwie jazzig verziert hat. Auf diese Idee wäre ich bei den Stücken aus dem Frühbarock nie im Leben gekommen. Es passte im Ensemble aber eigenartigerweise ganz wunderbar zu den Stücken. Eine schräge Note kann also an einer unerwarteten Stelle genau richtig platziert sein, auch wenn ich in meiner musikalischen Welt das so nicht vermutet hätte. Aber weiß ich denn wirklich, was der richtige Platz für etwas ist oder gehe ich einfach nur immer ganz selbstverständlich davon aus, dass sich die Dinge um mich herum nach meiner Vorstellung zu sortieren und platzieren haben?
Natürlich ist die braune Nacktschnecke bei uns im Rasen genau am für sie richtigen Platz und in ihrem Element. Die tote Maus hat sich den Ort vor unseren Brombeerbüschen vielleicht nicht selber zum Sterben ausgesucht aber eigentlich ist es dort ganz schön, sehr still und friedlich. Die kleinen Schneckchen sind im Holunder ebenso richtig verortet, wie der Buchsbaumzünsler in unserem Buchsbaum. Dem Steinchen in meiner Sandale unterstelle ich keine böse Absicht. Wo, wenn nicht in unserem Schlafzimmer sollte sich eine kleine unschuldige Mücke ernähren und für den Hundehaufen auf unserer Auffahrt kann der Hund nichts. Das Schwein ist in diesem Fall nicht der Hund.
Es ist normalerweise alles genau richtig platziert im Leben, ich sehe es nur vielleicht nicht, so wie die Brille auf meiner Nase. Manchmal denke ich, dass etwas nicht an der richtigen Stelle ist, aber das ist dann allein mein Problem und hat mit meiner beschränkten Vorstellung von der Ordnung der Welt zu tun. Aufgabe für mich wird es also sein, die Welt um mich herum mit einer neuen, veränderten Einstellung wahrzunehmen. Es gibt immer meine Sichtweise und gleichberechtigt daneben auch immer die Sichtweise aller anderen Lebewesen und Dinge in meinem Umfeld.
Alles ist an genau seinem richtigen Platz.