Kürzlich habe ich einen spannenden Vortrag gehört, in dem es um gesundheitsfördernde Maßnahmen ging. Die Referentin hat sich eingangs zunächst mit dem Begriff bzw. der Vorstellung von Gesundheit beschäftigt. Gesundheit ganzheitlich betrachtet bedeutet immer auch Glück und eine der grundlegenden Voraussetzungen für Gesundheit und Glück ist ihrer Ansicht nach die Fähigkeit oder zumindest das Bestreben, immer wieder in die individuelle Balance, die eigene Mitte zu finden. Damit meint sie ausdrücklich die Balance in allen vorstellbaren Bereichen, also z.B. zwischen Anspannung und Entspannung, Ruhe und Aktivität, Belastung und Entlastung, Einatmung und Ausatmung, Säuren und Basen, Beuger und Strecker, Loslassen und Festhalten, Lärm und Stille, Tag und Nacht usw. Eine nachhaltige Störung der Balance kann zu einem krankhaften Zustand führen.
Das Konzept des Ausgleiches oder der Balance kennen wir als grundlegendes Prinzip aus der Natur. Wetterphänomene wie der Wind schaffen einen Ausgleich zwischen Hochdruck- und Tiefdruckgebieten. Überpopulationen können sich regulieren durch eine Vergrößerung der Population der natürlichen Feinde bis ein Gleichgewicht hergestellt ist. Das funktioniert allerdings nur dann, wenn die Feinde naturgemäß in der näheren Umgebung auch vorkommen und der Mensch nicht versucht, in das natürliche Gleichgewicht einzugreifen. Die aus dem Kaukasus als Bienenweide in Europa angesiedelte Herkulesstaude (Riesen-Bärenklau) hat hier ideale Lebensbedingungen vorgefunden, vermehrt sich exponentiell und unterdrückt einheimische Gewächse. Es erfordert einen hohen personellen Aufwand, die hochallergene Staude zu bekämpfen. In Australien hat im Jahr 1859 ein Farmer 24 Exemplare der von den Siedlern mitgebrachten und bis dahin ausschließlich in Ställen gehaltenen Kaninchen freigelassen. In der freien Wildbahn kamen diese Tiere dort nicht vor. Bei guten klimatischen Bedingungen haben sie sich dann rasant ausgebreitet und wurden Ende 1920 auf 10 Milliarden Exemplare geschätzt. Man versucht seitdem kontinuierlich, die Anzahl der Tiere zu verringern und zu begrenzen und setzt dazu seit einiger Zeit auf gezielt eingesetzte Viren.
Auch ohne zumindest offensichtliches menschliches Eingreifen geraten manche biologischen Vorgänge aus dem Gleichgewicht und führen zu Krankheiten. Ich weiß nicht mehr genau, von wem das folgende Zitat stammt: „Grenzenloses Wachstum ist die Philosophie von Krebszellen“. Der Spruch beschreibt die Krankheit Krebs mit ihrer unkontrollierten Zellvermehrung. Er lässt sich aber natürlich darüber hinaus auch auf wirtschaftliche Vorgänge oder gesellschaftliche Haltungen übertragen und lädt damit ein zu neuen Denkansätzen hinsichtlich krankhafter Zustände in verschiedenen Bereichen des Lebens und gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Für uns Menschen ist neben einer emotionalen und seelischen auch eine körperliche Balance wichtig. Mit fast 52 Lebensjahren nähere ich mich unaufhaltsam dem Alter, in dem mir verheerende Stürze drohen, weil meinem sich versteifenden Körper die seit den ersten Krabbel- und Gehversuchen antrainierte Körperbalance langsam aber sicher abhandenkommen wird. Dem kann ich ja aber mit frühzeitig einsetzendem Training ein wenig entgegenwirken. Eine einfache Übung ist das Zähneputzen auf einem Bein, das ich mehrmals täglich ganz unkompliziert praktizieren kann. Darüber hinaus habe ich meinen Lieblingstrainer im Fitnessstudio für mein Anliegen sensibilisiert und er hat sich mit seinem neuen Trainingsplan für mich förmlich überschlagen. Eine Übung ist besonders herausfordernd. Dabei stehe ich auf einem Bein auf einem Wackelbrett und halte vor mir eine senkrecht stehende Stange fest. Das untere Ende der Stange steht auf dem Boden. Am oberen Ende ist ein Gewicht befestigt und ich lasse die Stange wie ein umgedrehtes Pendel von einer Hand in die andere schwingen. Es ist ziemlich schwierig, dabei nicht vom Brett zu fallen. Das Bein, auf dem ich nicht stehe, führt bei dieser Übung immer ein merkwürdig anzusehendes Eigenleben. Um die Balance halten zu können steuert meine gesamte Muskulatur permanent und automatisiert gegen mein Umfallen und mein freies Bein rudert und schwingt wie eine am Körper festgewachsene Balancierstange in der Luft herum, ohne dass ich das bewusst steuern kann. Ich muss mich ganz drauf verlassen, dass meine Muskulatur mich aufrecht hält und die Situation sozusagen für mich richtet.
Beim Zinken arbeite ich daran, meinen Klang zu verbessern und zu veredeln. Das hat ebenfalls ganz viel mit Balance zu tun und viele Prozesse laufen mittlerweile unbewusst und automatisiert in meinem Körper ab. Vom schwingenden Stehen über die Bauch- und Brustatmung, die Luftführung, die Stütze, die Spannung in der Brust und den Ansatz bis hin zur genau auf jeden einzelnen Ton individuell eingestellte Mundraumausformung arbeitet mein gesamter Köper während des Zinkens permanent an einem Ausbalancieren und Optimieren des Klanges. Während dieses gesamten Prozesses rudern erfreulicherweise nicht irgendwelche Körperteile von mir unkontrolliert in der Gegend herum. Vielmehr wirken sich die ständigen, zum Teil minimalen Anpassungen unmittelbar auf den Klang aus und werden so zwar nicht sicht- aber dafür hörbar.
Häufig klappen diese ganzen ineinandergreifenden Prozesse aber auch noch nicht so gut. In einem schweren Stück, das ich gerade ganz fleißig übe, gibt es ein paar gemeine Intervallsprünge nach unten. Während ich die Phrasen in der hohen Lage schon manchmal ganz erfolgreich mit schönem und lockerem Klang bewältige, plumpsen die tiefen Töne jeweils wie ein nasser Sack Kartoffeln in ein Sprungtuch und liegen dann erst einmal dick und fett und behäbig am Boden herum, bis ich sie mühsam wieder etwas in die Höhe hieve, ihnen Kontur gebe und ein wenig Leben einhauche.
Natürlich möchte ich auch die tiefen Töne viel lieber wie auf einem straff und genau richtig austarierten Trampolin beschwingt abfedern lassen. Leider bin ich aber noch auf der Suche nach den richtigen Stellschrauben, um die Spannung des Trampolins genau auszubalancieren.
Von Zeit zu Zeit bin ich bei einer Osteopathin in Behandlung und auch diese Anwendungen haben Auswirkungen auf meinen Zinkklang. Deutlich bewusst geworden ist mir das nach einer Behandlung, bei der sich die Therapeutin meinem linken Knie, der rechten Gesäßhälfte und meinen Magenbändern ausgiebig und schmerzhaft gewidmet und anschließend noch an meinem Schädel sanft herumgezogen hat. Danach war mein Körper einige Zeit damit beschäftigt, sich wieder mittig auszutarieren und ich habe tatsächlich ein paar Tage lang keinen einzigen hohen Ton auf dem Zink spielen können. Danach war der Klang dann aber runder, glockenheller und feiner definiert als vorher. Für einen schönen Zinkklang in den oberen Tonlagen werde ich also zukünftig besonders auf mein linkes Knie und die rechte Gesäßhälfte achtgeben und zudem recherchieren, wie ich meine Magenbänder am effektivsten dehnen kann. Möglicherweise hat die Osteopathin ja auch noch ein Rezept für ein Gelingen der tiefen Töne. Wenn ich es genau überlege, könnte sie beim nächsten Mal meinen rechten großen Zeh behandeln. Der puckert manchmal ein wenig und vielleicht liegt es ja an diesem Körperteil, dass das mit den tiefen Tönen noch nicht so gut klappt.
Hin und wieder habe ich die Gelegenheit, in einer Kirche zu zinken. In dieser Akustik spielt sich das Instrument fast von alleine und füllt den Raum mit seinem wunderbaren Klang. Einzelne Töne gelingen mir manchmal schon ganz gut und sind vom Klang her genau richtig ausbalanciert mit Höhen und Tiefen und von der Intonation und Dynamik her von Anfang bis Ende stimmig. In diesen Momenten darf ich erfahren, wie gesund und glücklich ich mich fühlen kann, wenn jegliche Balance stimmt und ich eins bin mit allem.
Dass der rechte große Zeh vielleicht manchmal ein wenig puckert, ist dann auch gar nicht so schlimm.