Wackeln

Wackelige Angelegenheiten und Prozesse begegnen einem sein Leben lang immer wieder. Dies hat mich Ende September 2019 zu folgender Geschichte inspiriert:

Beim Sport mache ich viele Übungen auf dem Wackelbrett. Am Anfang hat mein Trainer mich behutsam an das wackelige Übungsgerät herangeführt und mich motiviert dabei zu bleiben, auch wenn ich häufig heruntergefallen bin. Mittlerweile kann ich das aber schon ganz gut, auch wenn es immer mal Tage gibt, an denen ich scheinbar nicht im Gleichgewicht bin und deutlich mehr hin und her wackele als üblich. Nach meinem Empfinden führe ich einige der wirklich schwierigen Gleichgewichtsübungen schon ganz anmutig aus. Letzte Woche bin ich aber bei meiner perfekt gelungenen Standwaage dann doch wieder vor Schreck vom Brett gekippt, als mein Trainer flapsig zu mir meinte, ob ich gerade wieder den „Sterbenden Schwan“ üben würde.

Wackelige Angelegenheiten gibt es natürlich nicht nur beim Sport. Die Phase der Pubertät bei jungen Menschen ist eine einzige wackelige Zeit mit ständigen Aufs und Abs, merkwürdigen Körperproportionen, schwankenden Stimmungslagen und wechselnden Zuständen zwischen dem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und betont kleinkindhaftem Verhalten. Aber wie schön ist es, wenn diese Phase erfolgreich überstanden ist und man den Kindern beim Fliegen zusehen darf. Hin und wieder schweben sie dann vielleicht mal auf einen kleinen Zwischenstopp zuhause ein, zeigen den Eltern, was sie alles in der Zwischenzeit gelernt haben und wie erwachsen sie geworden sind und dann fliegen sie wieder weiter.

Auf das Heranwachsen, also die Adoleszenz, bin ich vor einiger Zeit in einem ganz anderen Bereich gestoßen. In den Zeiten des hohen Zuzugs von geflüchteten Menschen nach Deutschland waren meine Kollegen und ich zuständig für den Bereich der Unterbringung der Menschen, ihrer Versorgung und erster Integrationsschritte. Gerade in der ersten Zeit des Ankommens in Deutschland werden entscheidende Grundsteine gelegt für eine dauerhaft gelingende Integration. Wenn in dieser Phase falsche Signale gesetzt werden, kann dies zu einer sich verfestigenden Abgrenzung und der Bildung von Parallelgesellschaften führen. Wie schrecklich ist es denn, wenn mitten in Deutschland Mütter mit der vollen Überzeugung, den Kindern etwas Gutes zu tun, ihre kleinen Mädchen genital verstümmeln lassen und Beschneiderinnen hier unterwegs sind und offensichtlich ihren Lebensunterhalt von ihrer Tätigkeit bestreiten können.

Zum Thema Alltagsrassismus und Ankommen in Deutschland habe ich vor etwas über einem Jahr einen hochinteressanten Vortrag gehört. Der Referent hatte den Migrationsprozess anhand eines Schaubildes verdeutlicht, das ich im Folgenden einmal nachgezeichnet habe:

Beim Ankommen in Deutschland überstrahlen Freude und Erleichterung alles andere. Die Strapazen und Gefahren der Flucht sind überstanden und das Leben ist nicht mehr unmittelbar bedroht, es gibt ein Dach über dem Kopf, Wärme, Essen, Trinken und sanitäre Anlagen. In dieser Phase besteht auch ein großes Interesse an der neuen Umgebung und Kultur. Der Referent hatte diese erste Phase als Honeymoon bezeichnet. Alles scheint möglich.

Aber dann gibt es erste Rückschläge und die entscheidende Phase der kulturellen Adoleszenz beginnt. Die Sprache ist doch schwieriger als gedacht, es ist kalt, nass und grau in Deutschland, alles riecht anders und hört sich anders an. Es gibt keinen Platz im Sprachkurs, das Asylverfahren schleppt sich dahin, die Bürokratie bleibt undurchschaubar, Menschen halten mitten am helllichten Tage auf der Straße Händchen oder küssen sich sogar, das ist offen praktizierte Pornographie. Dann kommen wieder gute Entwicklungen, eine Kinderbetreuung wird installiert, man hat ersten Kontakt mit den hier Eingeborenen, die finanzielle Unterstützungsleistung des Staates kommt verlässlich und engagierte Nachbarn oder andere Ehrenamtliche bieten Hilfe beim Deutschlernen, bei Behördengängen oder bei der Wohnungssuche an.

Das bleibt dann eine ganze Zeit lang ein ständiges Auf und Ab, eben vergleichbar mit der Pubertät bei erwachsen werdenden jungen Menschen. Wenn man diese kritische Zeit der Adoleszenz aber klug begleitet steigt die Fähigkeit der geflüchteten Menschen, mit Rückschlägen umzugehen und sie zu verkraften und sie können sich dauerhaft stabilisieren. Wenn man es darüber hinaus noch erfolgreich schafft, den Wertekatalog unseres Grundgesetzes und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu vermitteln, können sie eine Bi- oder sogar Multikulturalität entwickeln, die unsere Gesellschaft letztendlich bereichert. Wenn die kritische Phase aber verpasst oder eben nicht klug und sorgsam begleitet wird, folgt als Konsequenz ein „Absturz“ in Parallelgesellschaften mit allen denkbaren möglichen Folgen wie Kriminalität, Ghettos, in die sich kein Polizist mehr alleine hineintraut, eine sich verstetigende finanzielle Abhängigkeit vom Staat und eben auch Genitalverstümmelungen.  

Das obige Schaubild lässt sich bei näherer Betrachtung eigentlich auf die meisten Situationen übertragen, in denen man etwas Neues beginnt, ein neuer Arbeitsplatz etwa oder eine neue Lebensphase. Und natürlich auch auf das Erlernen eines neuen Musikinstrumentes. Beim Zinklernen habe ich nach der ersten begeisterten Phase eine lange Zeit permanenter Aufs und Abs durchlitten und meine Erfahrungen unter anderem auch mit kleinen Geschichten verarbeitet. In letzter Zeit überwiegen allerdings meine Fortschritte gegenüber den Rückschritten bei weitem und unversehens bin ich an dem Punkt angekommen, wo sich die Ausschläge nach oben und unten minimieren und angleichen und sich ein sich verstetigender ansteigender Trend abzeichnet.

Es fühlt sich nach überstandener wackeliger Zinkadoleszenz wunderbar an, zu fliegen.

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