Man ist bekanntlich immer so jung, wie man sich fühlt. Irgendwann kommt man aber unweigerlich in einen Lebensabschnitt, in dem man sich vielleicht noch jung fühlt, aber trotzdem zunehmend Indikatoren wahrnimmt, die darauf hindeuten, dass man altert. So ist es zum Beispiel mathematisch und biologisch höchst unwahrscheinlich, dass man sich selber noch in den Dreißigern befindet, wenn die eigenen Kinder zwischen Mitte und Ende Zwanzig sind.
Eine Zeit lang hatten wir als Zweitwagen einen kleinen, völlig zerbeulten Renault Twingo in unserem Familienbesitz. Die Heckklappe war mit Aufklebern übersät. Als die Jungs ihren Führerschein hatten, sind sie hauptsächlich mit diesem Auto durch die Gegend gefahren. Natürlich haben sie als erstes den Kassettenrekorder durch eine standesgemäße Musikanlage ersetzt. Irgendwann habe ich das Auto dann von ihnen wieder übernommen und die erste Zeit habe ich mich richtig jung gefühlt, wenn ich mit offenem Faltdach, Sonnenbrille und lauter Hip Hop Musik durch unseren Ort gebraust bin. Es haben mich viele junge Menschen gegrüßt, die dann aber doch alle recht irritiert geguckt haben, als sie realisiert haben, dass nicht einer meiner Söhne am Steuer saß, sondern bloß die Mutter. Das mit dem Grüßen hat dann auch schnell wieder aufgehört. Schade eigentlich!
Ein deutlich wahrnehmbares Anzeichen, dass ich altere, ist bei mir die steigende Anzahl von Brillen. Seitdem ich mit 18 Jahren meinen Führerschein erworben habe mit der Maßgabe, ich müsse beim Führen eines Fahrzeuges geeignetes Augenglas tragen, setze ich beim Autofahren und im Kino eine Brille auf. Ich dachte ja immer, wenn irgendwann die Altersweitsichtigkeit einsetzt, hebt diese die Kurzsichtigkeit irgendwie auf. Das ist aber leider nicht so und nun habe ich seit etwa drei Jahren eine zusätzliche Arbeitsplatzbrille, die mir die Bildschirmarbeit erleichtert. Weder mit der Autobrille noch mit der Arbeitsplatzbrille kann ich nun aber beim Zinken die Noten auf dem Ständer erkennen. Meine alte Brille, die ich als Ersatzbrille aufbewahrt hatte, passt glücklicherweise genau für diese Gelegenheiten und ist nun meine neue Zinkbrille. Das Lesen von Nachrichten auf dem Handy oder Speisekarten im Restaurant funktioniert allerdings mittlerweile nur noch ausschließlich ohne Brille. Am Liebsten laufe ich auch tatsächlich ganz ohne geeignetes Augenglas herum und komme damit wunderbar klar.
Auf meinem Weg zur Arbeit pendle ich regelmäßig mit dem Zug und sitze dabei gerne in den Viererabschnitten, da ich mich dort nicht so eingezwängt fühle. Auf einer Fahrt haben sich einmal zwei attraktive jüngere Frauen zu mir gesetzt und dann noch ein junger Mann, der sich heftig um die Aufmerksamkeit der beiden bemühte. Seine anfänglich noch vergeblichen Flirtversuche wurden immer alberner und ich hatte Mühe, ernst zu bleiben und wusste irgendwann nicht mehr, in welche Richtung ich noch unbeteiligt schauen sollte. Also habe ich die Augen zugemacht und vorgegeben zu schlafen, während ich mich darauf konzentriert habe, mein Gesicht nicht zu verziehen und nicht laut loszulachen. Die beiden Frauen waren dann doch mit der Zeit recht angetan von den Annäherungsversuchen und die Stimmung wurde immer fröhlicher und ausgelassener bis der junge Mann irgendwann verschwörerisch wisperte: „Sch, nicht so laut, sonst wecken wir die ältere Dame!“ Da war es dann leider um meine altersangemessene Selbstbeherrschung geschehen und ich habe laut losgeprustet.
Kürzlich habe ich eine Fortbildung besucht zum Thema „elektronische Aktenführung“. Der Dozent hat uns kompetent durch die zweitägige Veranstaltung geführt und uns auch am Rande noch jede Menge Tipps zum Umgang mit dem Computer gegeben. Bei dem neuen Programm wird einem angezeigt, mit welchem User man gerade angemeldet ist. Bei der Überalterung unserer Gesellschaft werden wir ja alle recht lange arbeiten müssen und da finde ich es sehr vorausschauend und fürsorglich von den Programmierern, dass sie gleich schon mit einkalkuliert haben, dass wir eine beginnende Altersdemenz noch locker überspielen können, wenn wir auf unseren Bildschirmen nachlesen können, wer wir sind. Es gibt dazu auch noch die Möglichkeit, ein Foto von sich hochzuladen. Bei fortschreitender Demenz ist das dann sicherlich ganz hilfreich, wenn man sich auch immer noch einmal über das Bild vergewissern kann, wer man ist.
Kurios fand ich bei der Veranstaltung, dass der Dozent, der in etwa so alt war wie mein ältester Sohn, uns davon erzählte, wie es früher so war mit den Computern und dass heute alles ganz anders und viel einfacher sei. Mein Begriff von „früher“ reicht zeitlich doch etwas weiter in die Vergangenheit zurück als seiner. Immerhin habe ich zu Beginn meiner Berufstätigkeit in der Verwaltung noch mit Karteikarten gearbeitet und seinerzeit die Revolution der elektrischen Schreibmaschine im Büroalltag hautnah miterlebt, die die Anweisung an das Schreibbüro zum Beginn eines Diktates: „Bitte einen Kopfbogen und zwei Durchschläge einspannen …“ überflüssig gemacht hat. Da kam ich mir dann also in der Schulung jetzt doch ganz schön alt vor.
Einen ganz offensichtlichen Indikator für den Alterungsprozess stellen ja in der Regel die Falten dar, die sich in einem nicht gelifteten Gesicht irgendwann ausprägen. Bis zum Beginn meiner Zinkstudien bin ich ganz gut ohne allzu tiefe Stirnfalten durchs Leben gekommen. Ich führe es nun eindeutig auf die ganze Gesichtsakrobatik zurück, die ich beim Zinken täglich praktiziere, dass sich jetzt doch einige Falten eingegraben haben. Vor allem meine Stirn zieren nun deutlich sichtbare Querfalten, die ich durch die Übungen zum Hochziehen der Klänge erworben habe. In der Öffentlichkeit behaupte ich natürlich vehement, es sei eine „Denkerstirn“. Das klingt dann doch seriöser, glaubhafter und nachvollziehbarer als die Aussage, ich litte an einer „Zinkenistenstirn“.
Gut ist natürlich, dass ich die Falten in meinem Gesicht normalerweise gar nicht sehe. Im Computerprogramm habe ich selbstverständlich ein schmeichelndes Bild hinterlegt, das mich noch ohne Falten zeigt, wobei ich hoffe, dass ich mich darauf auch in fünf Jahren noch erkennen werde. Und morgens, wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ohne Brille mein Gesicht sowieso wunderbar faltenlos. Weder meine Auto-, noch meine Arbeitsplatz- oder meine Zinkbrille sind auf die Entfernung des Spiegels richtig eingestellt, so dass ich auch damit meine Falten leider gar nicht erkennen kann. Kurzzeitig habe ich mit dem Gedanken gespielt, mir noch eine perfekt für diesen Anlass angepasste Faltenbrille zuzulegen. Da ich aber gerade mein Geld für einen eigenen Zink spare, wird es die nächsten Jahre wohl nicht dazu kommen.
Morgens vor dem Spiegel und den größten Teil des Tages bei der Arbeit im Büro werde ich mich also noch eine ganze Weile jung fühlen können. Und beim Zinken soll ich jetzt seit neuestem die Stirn nun doch insgesamt gar nicht mehr so stark runzeln, so dass sich die Falten vielleicht nicht mehr weiter vertiefen werden. Da ich außerdem meine Stirn mit luxuriösen Anti-Aging-Cremes verwöhne, rechne ich noch mit einer Rückbildung der Stirnfalten. Jedenfalls fühle ich mich noch jung genug, um die Hoffnung darauf nicht aufzugeben