folgen

Ende April 2023 hatte ich viel zum Nachdenken, was irgendwie alles in einer neuen Geschichte verschmolzen ist. Es ist ganz erstaunlich wie Autofahren, ein Nierenstein, Gregorianik und die Sonne miteinander in Zusammenhang stehen.

Auf der Heimfahrt nach einem wunderbaren Tagesausflug an die Nordseeküste konnte ich auf der Rückbank unseres Autos ganz entspannt ein bisschen wegdösen und bin erst wieder aufgewacht, als die bis dahin sehr flüssige und geschmeidige Fahrt sich irgendwie anders angefühlt hat. Tatsächlich hingen wir auf der Landstraße hinter einem trödeligen und unaufmerksamen Langsamfahrer fest. Hier im Norden haben wir wahrlich keine Haarnadelkurven, aber der Sonntagsfahrer vor uns ist in jede der sanften und langgezogenen Kurven sehr langsam und vorsichtig eingefahren und hat, wenn es ihm mit knapp 70 km/h dann doch noch zu schnell wurde, in den Kurven sogar noch weiter abgebremst. Ich war ganz froh, nicht selber am Steuer zu sitzen, sondern einer unserer Söhne. Der merkte nach einem Blick in den Rückspiegel an, dass der Fahrer vor uns schon eine große Gefolgschaft gesammelt habe. Tatsächlich war hinter uns eine lange Autoschlange zu sehen. Irgendwann konnten wir an einer übersichtlichen und gegenverkehrsfreien Stelle überholen und unser Sohn konnte den restlichen Rückweg in selbst gewählter Geschwindigkeit nun wieder wie gewohnt in seinem flüssigen und geschmeidigen Fahrstil gestalten.

Tja, da träumt man ein bisschen dösig vor sich hin und findet sich auf einmal in der Gefolgschaft von irgendjemandem wieder, der in einer ganz anderen Geschwindigkeit und einem anderen Stil unterwegs ist, als man selber. Das ist nicht nur beim Autofahren so. Das kann ja schon passieren, dass man sich in seinem Leben ganz behaglich eingerichtet hat und ein bisschen verträumt vor sich hinlebt und irgendwann in einem wachen Moment realisiert, dass man einem politischen oder einem spirituellen Führer oder Bewegung, einer automatisierten Handlungsweise, einem bequemen Denkmuster oder ganz einfach dem unreflektierten Mainstream folgt. Was lässt uns dann aufwachen? Was zeigt mir persönlich an, dass ich da ohne nachzudenken gerade jemand oder etwas folge, das mir eigentlich widerspricht, mir vielleicht schadet, für das ich mich innerlich verbiegen muss?

In mir scheine ich so eine Art inneren Kompass zu haben, den ich im Laufe meines Lebens entwickelt habe. Bestimmte Werte, die ich in der Kindheit schon verinnerlicht habe, stehen unveränderlich für mich fest, z.B., dass ich die Würde eines jeden Menschen respektiere, dass Gewalt keine Option ist und dass Liebe besser ist als Hass. Ansonsten versuche ich, meinen inneren Kompass immer weiter zu optimieren und zu verfeinern um immer schneller und sensibler wahrnehmen zu können, wenn ich in meinem Denken oder Handeln mal vom Kurs abkomme. Ich versuche also im übertragenen Sinne, wach und aufmerksam in meinem Leben in eine richtige Richtung zu gehen, Dinge zu hinterfragen und nicht einfach wegzudösen.

Dafür scheint es mir gut und hilfreich zu sein, wenn ich regelmäßig meditiere oder Achtsamkeit übe oder Yoga mache oder zumindest gut auf meinen Körper höre. Das schaffe ich auch relativ problemlos in manchen Lebensphasen. Wenn aber viel los ist und kleine und große Katastrophen permanent und unkontrolliert auf mich einprasseln, dann fällt das mit der Achtsamkeit doch schon mal hintenüber. Meistens piekst mich aber mittlerweile mein innerer Kompass recht zuverlässig ganz beharrlich an und ich wache in solchen Phasen dann doch irgendwann wieder auf und beginne nachzudenken, wem oder was ich da gerade folge. Das kann schmerzhaft sein, wenn sich blockierte Emotionen in einem doofen Nierenstein manifestieren. Das kann aber auch ganz sanft oder humorvoll geschehen und passiert bei mir mittlerweile meistens bei dem, was ich tatsächlich regelmäßig täglich und in der Regel mit viel Freude praktiziere, dem Musizieren.

Beim Zinken orientiere ich mich an vielen Dingen. Körpereinstellungen haben sich automatisiert und wenn ich mit den Augen den Noten folge und in Bruchteilen von Sekunden die Notenschrift entziffere mit den Takt- und Tempovorgaben, Tonhöhen, den Vorzeichen, dem notierten Rhythmus und ggfls. dem Text, dann baut mein Hirn blitzschnell die Musik zusammen und Körper und Seele formen mit Hilfe des Zink die Töne so, wie ich das will. Zumindest in der Theorie, irgendwas ist ja leider immer, was das Zinken stört.

Kürzlich habe ich teilgenommen an einem Chorprojekt. Wir haben unter der Leitung von Ulrike Volkhardt, die dazu viel geforscht hat, Gesänge aus dem Mittelalter aus Frauenklöstern in der Lüneburger Heide erarbeitet und in einer musikalischen Andacht dargeboten. Für mich war es gewöhnungsbedürftig, keinen Zink in der Hand zu haben, sondern ohne Hilfsmittel zu singen. Und dann war natürlich die Notation total ungewohnt.

Die Gesänge sind von Ulrike Volkhardt in Annäherung an moderne Notation editiert worden, aber Taktstriche, Pausenzeichen und Notenwerte fehlen. Wir sind mit der Melodie ausschließlich dem Rhythmus des Textes gefolgt und das war zunächst eine ziemlich große Herausforderung für mich. Nach einiger Zeit und vor allem einem innerlichen Sich-Einlassen auf den Musikfluss hat das Singen der zumeist einstimmigen Gesänge auf mich dann aber eine ganz eigenartige, meditative Sogwirkung entfaltet. Die Dinge, denen ich beim Musizieren sonst so folge, waren plötzlich unwichtig. Ganz im Fokus stand zentral und ungestört das Dahinfließen der Musik anhand des Textes.

Beim mehrstimmigen Musizieren mit anderen zusammen sollte man sich auf eine gemeinsame Basis verständigen und sich abstimmen, wem oder was man folgen will. Mit meinem Bass-Dulcian-Freund aus Erlangen arbeite ich gerade im Unterricht in der ovbox an einem der kleinen geistlichen Gesänge von Heinrich Schütz. Wir haben u.a. die Taktwechsel vom Gradtakt zum Dreier und wieder zurück analysiert. Theoretisch können wir dabei einem gleichbleibenden Puls folgen. Mein Bass-Dulcian-Freund hat dazu aber ganz richtig wie folgt festgestellt: „Für den geraden Teil sind 30/min Ganze zügig und 34/min Ganze zu schnell. Nimmt man die Ganzen des geraden Taktes für drei Ganze im Dreier (was wegen der 3/1-Bezeichnung logisch wäre) ist der Dreier sehr zäh. Nimmt man die Halben aus dem geraden Teil für ganze Takte im Dreier, also Halbe wird punktierte Brevis, ist der Dreier viel zu schnell.“ Wir haben das Problem im nächsten Unterricht dadurch gelöst, dass wir nicht sklavisch einem gleichbleibenden Puls folgen, sondern einfach unserem Gefühl. Manchmal scheint es sonnenklar, wem oder was man folgt.

Ansonsten folge ich neben meinem Gefühl beim Musizieren und meinem inneren Kompass bei meinem Verhalten seit kurzem voller Begeisterung der Sonne. Wir haben seit Dienstag nach Ostern Photovoltaik auf unserem Dach und ich starte elektrische Geräte nun nicht mehr wie es in meinen persönlichen Tagesrhythmus passt, also vorzugsweise frühmorgens, sondern orientiere mich am Stand der Sonne und der jeweiligen Lichtausbeute unseres Kraftwerks auf dem Dach.

Mit den Werten meines inneren Kompasses ist die Photovoltaik auf dem Dach hervorragend vereinbar und ein supergutes Gefühl stellt sich ganz von alleine und ganz schnell ein, wenn wir den Strom für Waschmaschine, Staubsauger, Backofen etc. ganz CO2 neutral erzeugen, indem wir die Energie der Sonne nutzen. Manchmal scheint es eben wirklich sonnenklar und einfach, wem oder was man folgt.

%d Bloggern gefällt das: