Perspektiven

Anfang Mai 2022 beschäftigen mich beim Zinken und anderswo verschiedene Perspektiven und die Erkenntnisse, die ich durch einen neuen Blick auf Altgewohntes gewinnen kann:

Im Büro bin ich in der letzten Woche mit einem höhenverstellbaren Schreibtisch ausgerüstet worden. Das tut natürlich zunächst erstmal meinem Rücken gut. Das Arbeiten fühlt sich aber auch anders an, wenn ich es im Stehen erledige und der Blick von oben auf den Schreibtisch meiner Kollegin gegenüber ist auf einmal ein anderer. Interessanterweise ist die Corona-Präventions-Spuckschutz-Plexiglasscheibe an den nicht höhenverstellbaren Schreibtisch meiner Kollegin anmontiert worden, so dass ich ab jetzt doch sehr aufpassen muss, dass ich, wenn ich im Stehen arbeite, nicht aus Versehen darüber hinweg meine Kollegin anspucke.

Perspektivwechsel tun gut und bringen Abwechslung in meinen Arbeitsalltag. Während der letzten zwei Jahre habe ich wegen der Doppelbelegung unseres Büros meinen eigenen Arbeitsplatz kaum nutzen können und habe mich jeweils auf freien Arbeitsplätzen meiner Kolleginnen in deren Einzelbüros eingeklinkt. Das war zum Teil wirklich herausfordernd. Mäuse und Tastaturen sind überall anders und teilweise war die Strecke zum Etagenkopierer oder den Toilettenräumen doppelt so lang wie gewohnt. Durch die längeren Laufwege habe ich zwar meine Fitness steigern können. Die Toilettengänge musste ich allerdings deutlich vorausschauender planen als gewohnt.

Wenn ich mich an andere Orte begebe, kann ich einen neuen Blick bekommen für Dinge, die mir selbstverständlich erscheinen und über die ich sonst vielleicht gar nicht nachdenken würde. Manches erkennt man besser aus der Distanz. Den nach einem Sturm beschädigten Ziegel auf dem Dach meines Nachbarn, kann ich aus einem unserer Fenster im ersten Stock gut sehen, während er den Schaden von seinem Grundstück aus gar nicht erkennen kann. Auf einer Audioaufnahme meines Zinkens höre ich alle möglichen Unstimmigkeiten (gruselige Intonation, fehlende Artikulation, flache Dynamik, verpatztes Timing usw.), die mir beim Spielen gar nicht aufgefallen sind oder von denen ich sogar felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass ich beim Zinken in ausreichendem Maße darauf geachtet habe. Astronauten haben berichtet, dass sie durch die Draufsicht auf unseren blauen Planeten aus einem Raumschiff oder einer Raumstation heraus sehr eindringlich begriffen haben, wie verletzlich unser Heimatplanet mit seiner dünnen Atmosphäre ist und dass es ihn dringend zu schützen gilt. Und große Probleme und Sorgen, die einen belasten, können unter Umständen ganz klein werden, wenn man sie aus der Mondperspektive betrachtet. Sowohl körperlich als auch nur in meiner Vorstellung kann ich mich bewegen, andere Positionen einnehmen und durch veränderte Perspektiven neue Erkenntnisse erlangen.

Als Mensch ist man normalerweise mit einer oder idealerweise sogar mehreren Gehirnzellen ausgestattet und sollte grundsätzlich in der Lage sein, zu denken. Neben dem logischen Denken gibt es auch noch die Empathie, aber ich weiß gar nicht, ob diese auch von den Gehirnzellen gesteuert wird oder ob das Steuerungselement dafür im Herzen, den Emotionen oder dem Bauch verortet ist.

Laut Wikipedia bezeichnet Empathie die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Ein damit korrespondierender allgemeinsprachlicher Begriff ist Einfühlungsvermögen.

Ich kenne Menschen, die keine oder nur wenig Empathie haben. In ihrer Gegenwart fühle ich mich unwohl. Einige Menschen wie z.B. Vladimir Putin kenne ich nicht persönlich, habe aber nach allem, was ich so mitbekomme den Eindruck, dass ich mich in seiner Gegenwart nicht wohl fühlen würde.

Empathische Menschen sind in der Lage, Perspektiven zu wechseln. Sie können wahrnehmen, wie es ihnen selber gerade geht und können sich aber auch vorstellen und nachempfinden, wie es einem anderen Menschen gerade gehen könnte. Diese Perspektivwechsel können sehr aufschlussreich sein bei Konflikten und sind überhaupt im täglichen Miteinander von Menschen überaus wertvoll.

Es ist nicht immer leicht, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Es ist ja zum Beispiel so, dass ich eigentlich immer recht habe und meine Entscheidungen, Einschätzungen, Wertevorstellungen und Lebensphilosophien die richtigen sind. Manchmal kommt es mir komisch vor, dass es Menschen gibt, die ganz anders ticken als ich, in einem anderen Tempo im Leben unterwegs sind, nicht monochrom gepolt sind und ganz andere Werte haben. Ich kann es aber verstehen, dass z.B. Menschen aus Kriegsgebieten oder Ländern, in denen es keinerlei persönliche Zukunftschancen gibt, eine Perspektive für ihr Leben oder das ihrer Kinder in anderen Ländern suchen und hoffentlich auch finden können. Und auch wenn ich mit meiner Meinung natürlich immer recht habe kann ich es durchaus zulassen, dass es andere Meinungen gibt.

In unserer Demokratie halten wir es – so schwer es manchmal fallen mag – aus, dass es viele verschiedene Überzeugungen und Lebenseinstellungen gibt. Immerhin haben wir aber in Deutschland unsere Freiheitliche Demokratische Grundordnung (Menschenwürde, Demokratieprinzip, Rechtsstaatlichkeit) als verbindlichen Kodex für unser Zusammenleben festgelegt. In einer Diktatur mit nur einer „richtigen“ Perspektive möchte ich nicht leben.

Neben Situationen, in denen ich bewusst eine andere Perspektive einnehme, gibt es auch immer wieder Begebenheiten im Leben, denen ich nicht ausweichen kann und die mich zum Nachdenken bringen über Selbstverständliches. Normalerweise bin ich z.B. extrem monochrom gepolt und lege großen Wert auf Termine, Zeitschienen, Daten, Zeitfenster und chronologische Abläufe. Anlässlich eines Trauerfalles habe ich mich unversehens in einer polychromen Denkweise wiedergefunden und auf einmal sind Termine gar nicht mehr wichtig. Es geht vielmehr um Zeit haben für Kontakte, Begegnungen, Gespräche und das Trauern. Die monochrome Welt existiert außerhalb von mir natürlich weiter und irgendwann werde ich mich da auch wieder hineinbegeben, aber das Erlebnis, wie es sich anfühlt, wenn Termine und Zeitpläne auf einmal gar nicht mehr im Mittelpunkt stehen, ist schon sehr lehrreich.

Beim Zinken nehme ich bewusst immer mal wieder andere Perspektiven ein. Meine Doppelzunge bewegt sich nach Jahren (!) des Übens bei guter Tagesform mittlerweile recht geschmeidig, aber es gibt genug andere Herausforderungen beim Zinken, die mich an manchen schweren Stücken schier verzweifeln lassen. Die Marienvesper von Claudio Monteverdi z.B. übe ich seit Anfang des Jahres und habe zwischenzeitlich schon gedacht, ich bekomme einige Stellen nie im Leben hin. Beim Üben bin ich auch immer mit dem Bewusstsein herangegangen, dass die Marienvesper ja bekanntermaßen außerordentlich herausfordernd ist und habe darauf gelauert, was wieder nicht klappt. Jetzt habe ich mir aber eine neue Perspektive auf das Stück verschafft. Ich habe mir einfach ein noch schwereres Ricercar von Giovanni Bassano gesucht, das ich auch noch aus alter Notation übe.

Auszug aus dem Ricercata seconda von Giovanni Bassano

Wenn ich dann am Ende des Übens „noch mal eben zur Entspannung“ die Marienvesper (aus modernen Noten) zinke, fühlt sich das vergleichsweise leicht und vertraut an und gar nicht mehr sooo schwer. Gut, einiges klappt immer noch nicht, aber verglichen mit dem Bassano flutscht das doch relativ leicht.

Unterschiedliche Perspektiven sind wichtig, können lehrreich sein, eine neue Sicht auf Altgewohntes eröffnen und uns im Leben weiterhelfen. Daher werde ich meine Gehirnzelle weiter fleißig trainieren, so dass ich auch zukünftig immer wieder geschmeidig sowohl aktiv Perspektivwechsel vornehmen kann als auch offen bin für sich mir unversehens eröffnende neue Perspektiven.

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