Veränderung

Mitten in der Coronakrise, Ende März 2020 habe ich eine Geschichte darüber geschrieben ohne eins der folgenden Wörter zu benutzen: Katastrophe, Atemschutzmaske, Klopapier und Nudeln. Das war eine ganz schön große Herausforderung aber es ist mir gelungen:

Unser Leben ist vom Beginn bis zum Ende ständigen Veränderungen unterworfen. Schon der griechische Philosoph Heraklit von Ephesos (um 535 – 475 v. Chr.) formulierte: „Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung.“

Es gibt gleichmäßige und langsame Veränderungen wie die stetige Ausdehnung des Weltalls, das allmähliche, über Jahrmilliarden andauernde Verlöschen unserer Sonne, auseinanderdriftende Kontinentalplatten auf unserem Planeten, wechselnde Warm- und Kaltzeiten, die Entstehung neuer Arten, sich wandelnde Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie körperliche Entwicklungen und Rückentwicklungen ab Zeugung/Entstehung von Leben bis zu dessen Sterben.

Immer wieder gibt es aber auch plötzliche und einschneidende Ereignisse, die unerwartete Veränderungen nach sich ziehen. Das können Meteoriteneinschläge sein, Waldbrände, Vulkanausbrüche, Überflutungen oder Heuschreckenplagen. Die Kontrolle des Feuers, bahnbrechende Erfindungen wie die der Metallverarbeitung, des Rades, der Schrift, des Buchdruckes oder der Dampfmaschine haben das Leben der Menschen entscheidend beeinflusst und verändert. Auch Kriege, Epidemien, Militärputsche, Attentate, Wirtschaftskrisen, Fußballweltmeisterschaften, Mondlandungen oder auch die Entwicklung zuverlässiger Schwangerschaftsverhütungsmittel bilden Zäsuren im Zusammenleben der Menschen. Nach den Ereignissen ist manchmal nichts mehr wie vorher. Was als sicher galt, ist auf einmal in höchstem Maße unsicher. Und was für die Ewigkeit erschien ist plötzlich endlich.

Nach dem großen Meteoriteneinschlag auf der Erde vor 65 Millionen Jahren sind die bis dahin die Erde beherrschenden Dinosaurier ausgestorben und die ein Nischendasein fristenden Säugetiere wurden ganz unverhofft zu den Gewinnern der Situation. Die großen Pestepidemien im Mittelalter, bei der ein hoher Anteil der Bevölkerung auf schreckliche Weise ums Leben kam, haben gravierende gesellschaftliche Veränderungen nach sich gezogen und während und nach der Fußballweltmeisterschaft 2014 war es auf einmal möglich, stolz auf Deutschland zu sein und mit Deutschlandfähnchen am Auto herumzufahren.

Es gibt Veränderungen, die um uns herum geschehen, die uns überrollen, auf die wir keinen Einfluss haben und auf die wir nur mit all dem Wissen und der Kreativität, die uns Menschen zu eigen ist, reagieren können. Wichtig erscheint es mir zu akzeptieren, dass Veränderungen normal sind und kreativ und konstruktiv mit ihnen und ihren Folgen umzugehen.

In der Zeit des hohen Zuzugs geflüchteter Menschen nach Deutschland in 2015/2016 ist mir von einer Flüchtlingshilfeorganisation der aus China stammende Leitspruch in Erinnerung geblieben: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“

Mir selber fällt die Anpassung an Veränderungen nicht immer leicht. Bei einigen Dingen wie neuen Zugfahrplänen, mehr Schärfe im Essen als gewohnt, wenn unser Jüngster für uns kocht oder einem altersbedingt steigenden Bedarf an geeigneten Sehhilfen reagiere ich gelassen und souverän, akzeptiere die Umstände so wie sie sind oder schaue mich nach Alternativen oder neuen Wegen um. Bei anderen Dingen bin ich aber zutiefst persönlich betroffen und nahezu gekränkt und kann mich mit einigen Veränderungen bis heute nicht abfinden. Dazu gehört zum einen die Rechtschreibreform von 1996, der ich bis heute skeptisch gegenüberstehe. Noch immer habe ich mich nicht an die Schreibweise bestimmter Wörter gewöhnen können. Zum anderen hat ein Supermarkt, bei dem ich bis dahin regelmäßig eingekauft hatte, von einem Tag auf den anderen die Anordnung der Produkte im Laden geändert. Nichts war mehr an der gewohnten Stelle, ich bin planlos und zunehmend frustriert umhergeirrt, habe schließlich einen Liter Milch gekauft und bin seitdem nicht mehr dort gewesen.

Andere Veränderungen kann man selber herbeiführen und dann die Wirkung beobachten oder erspüren. Wenn ich eine unerfreuliche Situation nicht ändern kann hilft es, wenn ich meine Einstellung gegenüber der Situation oder meine grundsätzliche Sichtweise ändere. Beim Yoga kann eine kleinste Haltungsänderung zu unerwarteten Reaktionen in anderen Körperteilen führen. Wenn ich zum Beispiel im herabschauenden Hund das Gewicht von den Innenkannten meiner Füße auf die Außenkanten verlagere, zieht es ganz gewaltig in völlig anderen Muskelsträngen als vorher. Und wenn ich beim Zinken eines Tones minimale Veränderungen in meiner Mund- und Kieferhöhle oder an meiner Körperhaltung vornehme, verändert sich der Klang sofort und deutlich hörbar.

Augenblicklich befinden wir uns mitten in einer weltweiten Krise, ausgelöst von einem winzig kleinen Virus, die unser aller Leben verändern wird. Es wird auf Dauer manches nicht mehr so sein wie vor der Krise. Einiges können wir noch nicht absehen oder einschätzen und das macht vielen Menschen Angst. Es kursieren unzählige Texte, Bildchen und Videos im Netz, die sich mit der Krise beschäftigen und letztlich zählt ja auch diese Geschichte irgendwie dazu. Nachhaltig beschäftigt und zum Nachdenken gebracht hat mich bislang aber eigentlich erst ein einziger Artikel. Es geht darin um einen Perspektivwechsel, den man vornehmen kann um lähmende Angst zu überwinden und mit der augenblicklichen Situation gelassener umzugehen. Im Gegensatz zu einer Prognose, bei der man sich damit beschäftigt einen Blick in die Zukunft zu werfen, beschreibt der Text die Methode der „Regnose“. Damit gemeint ist ein Blick zurück aus der Zukunft auf die derzeitige Situation, als wenn sie schon Vergangenheit ist, als wenn man also die Krise schon erfolgreich bewältigt hätte.

Wenn ich mir nun also vorstelle, dass ich am Ende des Jahres 2020 gemütlich in meinem Sessel sitze und bei einem Glas Primitivo auf das ereignisreiche Jahr zurückblicke, finde ich es ganz erstaunlich, was sich bei mir und um mich herum alles verändert hat.

Zuallererst habe ich gelernt, mir richtig die Hände zu waschen. Dankbar bin ich noch immer, dass in der Krise Geschäfte geöffnet hatten, in denen ich Seife, Mengen an Handcreme und natürlich auch alles, was ich sonst so zum Überleben benötigt habe, kaufen konnte. Auf kurze Distanz niese ich anderen Menschen nicht mehr ins Gesicht. Ich habe viele Pullover fertig gestrickt. Meine innere Landkarte hat sich wieder geschärft und ich bin mir bewusster geworden, was mir wichtig ist (Familie, Zeit haben, Musik, Gesundheit, mit wenig zufrieden sein können) und was mir nicht so wichtig ist (materieller Reichtum, seichte Fernsehunterhaltung, die Länge meiner Haare). Als Gesellschaft haben wir gemerkt, dass es nicht sinnvoll ist, Krankenhäuser und Pflegeheime gewinnorientiert zu betreiben, sondern dass eine Menschenorientierung notwendig ist. Wir haben unsere Wertschätzung gegenüber den Menschen gesteigert, die in bis dahin eher belächelten und unterbezahlten aber für unser Zusammenleben hochwichtigen Bereichen arbeiten. Unsere Demokratie und unsere Grundrechte (Versammlungsfreiheit) sind wieder Dinge, die von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gewertschätzt und verteidigt werden. Und wir haben eine große Welle der Solidarität erlebt mit all denen, die durch die Krise in Not geraten sind.

Ganz persönlich konnte ich zudem meine Fitness steigern, da ich ab Ende März zweimal in der Woche als Turmbläserin vom Kirchturm meines Heimatortes Choralmelodien gezinkt habe.

Turmblasen 2

Aber trotz der vielen Zeit, die ich mit Zink Üben verbracht habe, beherrsche ich die Artikulationstechnik „Doppelzunge“ auch am Ende des Jahres 2020 immer noch nicht zufriedenstellend. Es scheint also mit meinem Doppelzungendefizit zumindest eine Sache im Universum zu geben, die sich nie verändern und konstant immer so bleiben wird, wie sie ist.

Spannend finde ich ja die Frage, ob und wie Heraklit seine Weisheit wohl formuliert hätte, wenn er den Zink und mein Problem mit der Doppelzunge schon gekannt hätte.

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