Im Alltag erscheint es oftmals verführerisch, auf Autopilot zu schalten und Dinge genauso zu machen wie gestern, vorgestern und vorvorgestern. Die Routinen geben Sicherheit, erleichtern vieles und schonen vermeintlich Lebenskraft. Ein bisschen erinnert das allerdings manchmal an Rituale die man mit Kleinkindern bewusst schafft, damit diese leichter in den Schlaf finden.
Als unsere Kinder noch klein waren habe ich in einem Erziehungsratgeber gelesen, dass man sein Kind auf den Arm nehmen und jeden Abend vorm Schlafengehen dieselbe kurze Strecke in der Wohnung herumtragen sollte. Dabei sollte man dann an immer denselben Stationen (ein Bild, eine Pflanze, eine Stehlampe, ein Fenster usw) anhalten und den jeweiligen Gegenstand benennen und betrachten. Im Idealfall schläft das Kind dabei dann ein, es passiert ja nichts aufregend Neues mehr. Vorlesen von Geschichten oder Singen von Schlafliedern ist zwar inhaltlich ein klein wenig abwechslungsreicher, es handelt sich aber von der Form her genauso um ein gleichbleibendes und von der Intention her einschläferndes Ritual.
Im Erwachsenen-Alltag sollte man dann aber schon aufpassen, dass man nicht in einem durch Rotinehandlungen begünstigten Halbschlaf durch den Tag trottet und dadurch vielleicht einiges von dem, was um einen herum geschieht, gar nicht mitbekommt.
Vor einiger Zeit bin ich mit meinem üblichen Zug abends von der Arbeit nach Hause gefahren. In Oldenburg hat dieser Zug immer eine Stehzeit von ca. 10 Minuten. Der vordere Teil wird abgetrennt und fährt in die Abstellung. Der hintere, in dem ich pfiffigerweise immer gleich von Anfang an sitze, fährt dann noch weiter. An diesem Abend kam jedenfalls die übliche Durchsage zur Zugteilung, ich habe aber gar nicht richtig hingehört und friedlich vor mich hingeträumt. Irgendwann störte mich dann ein freundlicher Bahnmitarbeiter auf und meinte, ich sollte doch besser den Zug verlassen, der würde jetzt in die Abstellung fahren. An diesem Tag war es das erste und bisher einzige Mal so, dass die Bahn den vorderen Teil hat weiterfahren lassen. Dieser Teil war dann leider schon weg, als ich ausgestiegen bin, so dass ich mir bis zu meiner Weiterfahrt die Wartezeit auf dem Bahnhof vertreiben durfte.
Seitdem versuche ich aber mit zunehmendem Erfolg, immer wieder mal aus dem einschläfernden und ritualisierten ewig gleichen Ablauf auszubrechen und bewusst Dinge wahrzunehmen oder auch zu tun, die anders sind als sonst und die dadurch eine belebende Wirkung entfalten.
Einiges habe ich dabei natürlich selber in der Hand. So versuche ich, wenn ich meine Hände falte, abwechselnd mal den für mich sich richtig anfühlenden rechten Daumen oben liegen zu haben und mal den linken. Bei der augenblicklichen Hitzewelle habe ich im Büro einen Fächer liegen und fächele mir mit rechts sehr elegant zu. Wenn ich das mit links versuche wirkt das deutlich unbeholfener und ich muss mich richtiggehend auf den holprigen Bewegungsablauf konzentrieren. Diese Übung nutze ich gerne in der Flaute nach dem Mittagessen um mein Konzentrationslevel wieder anzuheben.
Kürzlich bin ich in einem Pater Noster nicht wie üblich nur nach unten gefahren sondern – ganz mutig – auch wieder nach oben. Das Ein- und wieder Aussteigen war ganz schön ungewohnt und spannend.
Es gibt aber in unserem Umfeld auch eine Menge Dinge, die wir nicht beeinflussen, wohl aber als Abweichungen von der Norm und daher als belebend oder sogar beglückend wahrnehmen können.
Kürzlich habe ich beim Espresso in einem italienischen Restaurant das dazu gereichte winzige kleine Tütchen aufgemacht, in dem sich normalerweise eine mit Schokolade ummantelte Espressobohne befindet. Zu meiner freudigen Überraschung waren da aber sogar zwei dieser leckeren Bohnen drin und meine Freude darüber hat dem gesamten wunderbaren Abend einen schokoladenglücklichen Schimmer verliehen.
Eine kleine Mücke im Schlafzimmer kann dafür sorgen, dass ich mich die ganze Nacht wach und lebendig fühle. Und die drei dicht nebeneinander liegenden Mückenstiche an der Innenseite des rechten Oberarms lassen mich noch Tage später diesen Arm deutlich bewusster wahrnehmen als normalerweise. Auch eine unerwartete kalte Dusche am Morgen als Folge einer kaputten Heizung kann für einen erfrischenden Start in den Tag sorgen.
Mit dem Zink übe ich seit einiger Zeit ein für mich noch sehr schweres Musikstück. Ich habe eine genaue Vorstellung davon, wie es klingen soll und manchmal bekomme ich auch schon kurze Sequenzen in etwa so hin, wie mir das vorschwebt. Kürzlich habe ich nun genau dieses Stück in einem Konzert gehört. Es klang nahezu vollendet und wurde mit spielerischer Leichtigkeit und überwältigender und ansteckender Freude an der Musik dargeboten. Die Musiker haben das Stück natürlich anders gespielt als ich das tun würde. Aber genau diese Abweichungen von meiner gedachten Norm haben mich diese wunderbare Musik staunend und beglückt als etwas taufrisches Neues erleben lassen.
Beim Zinken ist ja nun sowieso eigentlich nur darauf Verlass, dass immer alles anders ist als sonst. Dazu zählen neben den äußeren Umständen wie Akustik, Temperatur und Luftfeuchtigkeit des Raumes, in dem man spielt und die An- oder Abwesenheit von Zuhörern, Mitspielern oder Lehrern vor allem immer auch die eigene körperliche und mentale Verfassung. Ich zumindest muss permanent reagieren auf all das, was wieder einmal anders ist als gestern, vorgestern oder vorvorgestern, scanne durchgehend, ob ich all die zum Teil winzigen Details, die für einen schönen Klang erforderlich sind, aktiviert habe und steuere je nach Klangergebnis idealerweise augenblicklich nach.
Vielleicht ist das auch mit ein Grund dafür, weswegen ich mich beim Zinken so außerordentlich wach und lebendig fühle. Von Routine beim Spielen bin und bleibe ich also hoffentlich auch in Zukunft weit entfernt.