Risse

Der zweite Corona-Winter zehrt an den Nerven. Viele Menschen haben sich verändert, wirken dünnhäutiger und zerbrechlicher. Ein kurzes aber sehr ansprechendes Wort zum Sonntag in unser örtlichen Presse zum Thema Kintsugi hat mich zusammen mit den vielen Schlaglöchern auf den Straßen und meinen Bemühungen mit dem Zink Mitte Februar 2022 auf folgende, recht nachdenkliche Geschichte gebracht:

Der diesjährige Winter hat Spuren hinterlassen. Es war der zweite Corona-Winter in Folge und viele Menschen hungern aus ganzer Seele nach Normalität, Kontakten, Sonne, Lachen, Begegnungen, Wärme und einem Ende der Isolationen und Einschränkungen. Bei uns im Nordwesten Deutschlands war der Winter zudem wieder einmal nicht lange kalt aber dafür extrem lange grau und nass. In vielen Straßen haben sich bestehende Risse und Löcher ausgebreitet und vertieft oder neu ausgeprägt. Sie bilden zum Teil bizarre Muster, die eine ganz eigene Schönheit entwickeln. Wenn man allerdings mit dem Auto in eins der Schlaglöcher gerät, kann man die Schönheit unter Umständen gar nicht würdigen.

Muss eigentlich etwas perfekt sein, um wahrhaft schön zu sein? Die im Ägyptischen Museum in Berlin ausgestellte Büste der Nofretete ist in meinen Augen der Inbegriff der Schönheit. In einer bis Februar 2020 dauernden Ausstellung in Bremen zierte ihre Nase eine stylische Sonnenbrille ohne dass ihre Schönheit dadurch beeinträchtigt wurde. Es gibt in Berlin auch eine Standfigur der etwas älteren Nofretete mit tiefer eingegrabenen Falten, etwas nach vorne gebeugter Haltung und einem kleinen Bäuchlein, das von überstandenen Geburten zeugt. Diese Figur finde ich ebenso schön und eigentlich noch menschlicher und anrührender als die bis auf einige altersbedingte Beschädigungen makellose Büste ihres Kopfes in jüngeren Jahren.

In der Musik kann man sich Noten von entsprechenden Computerprogrammen synthetisch vorspielen lassen. Man bekommt damit eine Vorstellung davon, wie ein Stück klingen könnte, aber richtige Musik ist das noch lange nicht. Musik entsteht erst dann aus den Noten, wenn ein oder mehrere Menschen die Noten interpretieren und unbewusst oder bewusst ein klein wenig unperfekt darbieten. Man könnte also sagen, erst das Unperfekte, ein kleiner Makel oder eine winzige Ungenauigkeit machen die Schönheit von Musik aus. Erst wenn sie nicht perfekt, sondern individuell gestaltet und damit lebendig ist, kann sie unser Herz und unsere Seele berühren.

Beim Zinken beschäftige ich mich wieder einmal damit, Passagen kontrolliert unperfekt zu spielen, damit sie nicht langweilig wirken. Wenn ich einen schnellen Lauf in exakt gleichförmigem Rhythmus spiele, wirkt er steril. Lebendig wird er erst, wenn ich zum Beispiel am Anfang etwas verzögere, sozusagen Anlauf nehme und den Tempoverlust gegen Ende durch ein Anziehen der Geschwindigkeit wieder ausgleiche. Allerdings lässt mich bei schnellen Läufen noch häufig meine Zunge im Stich. Eigentlich müsste ich mit der Doppelzungentechnik und angepasster Luftgeschwindigkeit und Spielenergie jeden einzelnen Ton weich oder hart artikulieren können, ganz so, wie ich die jeweilige Passage gestalten möchte. Statt aber wie ein lebendiger Schmetterling, Kolibri oder Spatz zu flattern, liegt meine Zunge häufig schier unbeweglich wie ein Backstein in meinem Mund. Schnelle Läufe gelingen mir daher meist nur unkontrolliert holpernd. Das ist ein Makel, den ich gerne mit einem etwas unauffälligeren Unvermögen tauschen würde, aber so funktioniert das natürlich leider nicht. Unsere Mängel und Löcher können wir uns nicht aussuchen und auch nicht einfach beliebig austauschen.

In Japan gibt es die Kunst, zerbrochene Gegenstände so wieder zusammenzufügen, dass die Risse extra betont werden. Die mit „Kintsugi“ (Goldreparatur) wieder heil gemachten Sachen erstrahlen mit allen Fehlern und Makeln in neuem Glanz und entwickeln durch die betonten “Narben“ und ihre unterstrichene Zerbrechlichkeit eine ganz neue, sehr anrührende Schönheit.

Auch wir Menschen sind nicht perfekt. Manchmal sind wir verletzlich und wie zerbrochen und tragen innerliche und äußerliche Verletzungen, Risse, Löcher, Brüche und Schwächen mit uns herum. Aber erst unsere Makel und unser Unperfektsein machen uns menschlich und lebendig.

Von Kintsugi können wir lernen. Wir dürfen unsere Brüche und Risse im Leben und die daraus entstandenen Narben zeigen. Sie gehören zu uns, machen uns einzigartig und legen Zeugnis ab von all den Kämpfen, die wir gewonnen und Entwicklungsschritten, die wir gemeistert haben.

Im Laufe meines Lebens fällt es mir mal leichter und mal schwerer, zu all meinen Unvollkommenheiten und Narben, zu meinen Rissen und Löchern zu stehen. Bei vielem klappt das ganz gut aber mit dem Makel meiner unfähigen Doppelzunge kann ich mich nur schwer abfinden. Nachdem ich kürzlich von Kintsugi gelesen habe, versuche ich derzeit bei meinem Üben, mir den Backstein in meinem Mund mit goldenem Lack überzogen und mit Silber und Platin besprenkelt vorzustellen. Das hat aber leider noch nicht zu einem befriedigenden Ergebnis geführt. Meine Zunge bewegt sich nicht geschmeidiger, vielleicht mache ich da mit dem Kintsugi doch noch was falsch.

Und ich glaube, auch die Straßen hier bei uns im Norden wird man nicht mit der Goldreparatur heil machen können. Da muss im Frühling wohl doch die Straßenmeisterei anrücken und die Löcher und Risse mit Asphalt nachhaltig flicken.

Aber vielleicht können wir Menschen ja nach dem langen Winter und der noch längeren Corona-Zeit unsere Schwäche, Dünnhäutigkeit und Verletzlichkeit ein wenig mit Goldlack stärken und Risse, Brüche und Löcher so kitten, dass wir in neuer, heiler, alter Schönheit und Stärke erstrahlen.

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