Wenn ich in pandemischen Zeiten nicht gerade meine Arbeit im Homeoffice erledigen kann, pendle ich regelmäßig mit der Bahn nach Bremen. Ich fahre gerne im letzten Wagen meines Zuges, weil ich dort zum einen viele mittlerweile bekannte Gesichter sehe und zum anderen der Weg vom Ausstieg aus dem Zug im Bremer Bahnhof bis zu den Treppenabgängen von dort deutlich kürzer und weniger überfüllt ist, als von den vorderen Wagen aus. Vorausgesetzt natürlich, der Lokführer leitet das Bremsmanöver rechtzeitig ein, so dass der Zug mittig im Bahnhof hält und nicht gefühlt auf halber Strecke nach Hannover. Beim Warten auf den Zug in meinem kleinen Provinzbahnhof positioniere ich mich genau da, wo der letzte Wagen üblicherweise zum Halten kommt. Es passiert gelegentlich, dass der Zug nicht rechtzeitig bremst und ich dann eine Strecke sprinten muss, um in den letzten Wagen einsteigen zu können. Immerhin hat der Zug aber bisher noch jedes Mal angehalten. Es gibt ja Bahnhöfe, in denen die Züge manchmal den Halt vergessen, gar nicht abbremsen und einfach durchfahren. Wenn man „IC vergisst Halt“ googelt, findet man leicht einige Beispiele.
Bremsmanöver sind etwas ganz Wichtiges und wir lernen schon als kleine Kinder, dass der eigene Körper hügel- bzw. deichabwärts (richtige Berge haben wir hier kurz vor Ostfriesland nicht) anders reagiert als auf gerader Ebene oder aufwärts. Auch später im Leben machen wir immer wieder die Erfahrung, dass sich die Bewegungsabläufe anders anfühlen, das Gleichgewicht neu austariert sein muss und ungewohnte Muskelgruppen arbeiten müssen, wenn wir einen Deich oder eine sonstige schiefe Ebene hinunterlaufen und uns dabei bremsen müssen.
Wenn wir uns nicht auf unseren Beinen fortbewegen, sondern ein Gefährt mit Rädern oder Kufen nutzen, ist das Bremsen noch wichtiger, weil die Geschwindigkeit, der Bremsweg und die Kräfte, die wir beim Bremsen aufwenden bzw. die auf uns wirken größer sind. Das merken wir besonders, wenn wir schnell abbremsen wollen oder müssen. Und wenn wir uns auf einem Gefährt im Wasser, in der Luft oder im Weltraum bewegen, ist wieder alles anders. Das hat alles irgendetwas mit Physik zu tun und man kann die Kräfte, Geschwindigkeiten und Bremswege auch irgendwie berechnen.
Bremsen muss man lernen. Das gilt für Kinder, die das Fahrradfahren für sich entdeckt haben genauso wie für Fahranfänger im Auto. Früher haben wir bei abrupten Bremsmanövern noch die sogenannte „Stotterbremse“ aktiv praktiziert, heutige Autos machen das mit ihrem Anti-Blockier-System von alleine. Beim Inline-Skaten mit meinen Jungs ist es mir vor vielen Jahren einmal passiert, dass wir auf unbekannter Strecke mit ziemlich hoher Geschwindigkeit auf eine Bordsteinkante zugefahren sind. Abbremsen konnte ich nicht mehr. Meine Jungs vor mir haben die Kante ganz elegant im Sprung genommen. Das habe ich dann auch versucht aber leider nicht geschafft und bin äußerst schmerzhaft auf meinem Steißbein gelandet. Seitdem bin ich nie wieder Inliner gefahren.
Bei uns in der Gegend gibt es viel Fahrradtourismus und wenn im Mai und Juni die Rhododendren blühen und ganze Wälder in lila Farben leuchten sind viele, zumeist ältere Menschen alleine oder gerne auch in größeren Gruppen auf ihren Fahrrädern unterwegs. Während sie früher vor allem genervt haben, wenn sie Fahrradwege blockiert oder durch langsames Anfahren vor mir bei grünen Ampeln verhindert haben, dass ich die Grünphase auch noch nutzen konnte, ist die Situation durch Elektroräder deutlich gefährlicher geworden. Viele der älteren Herrschaften scheinen nur im Urlaub hier bei uns überhaupt aufs Fahrrad zu steigen und können dann das Gewicht der Fahrräder, ihre Geschwindigkeit und ihre körperliche Kraft nicht richtig einschätzen. Vor roten Ampeln kommt es häufig zu dramatischen Bremsmanövern und Kurven, enge Stellen oder unschuldige Fußgänger passieren die Fahrradtouristen häufig mit halsbrecherischer Geschwindigkeit.
Insgesamt sind wir im Leben mit einem bestimmten, eigenen Tempo unterwegs, manche Menschen schneller und andere langsamer. Es gibt Menschen, die denken, reden und handeln mit hoher Geschwindigkeit während andere sich sehr viel bedächtiger durchs Leben bewegen. Das meine ich völlig wertfrei, jede Geschwindigkeit hat ihre Berechtigung, ihre Vor- und Nachteile und ist völlig in Ordnung. Manchmal gerät man aber in eine Gruppe von Menschen, die kollektiv in einem anderen Tempo vorankommen als man selber und das fühlt sich dann komisch an. Vor ein paar Wochen musste ich mich einen kompletten Wochenend-Workshop lang auf ein sehr gemächliches Arbeitstempo einstellen. Erst war ich frustriert, habe mich dann aber abgebremst und mich auf ein langsameres Tempo hinuntergeregelt. Danach war das Wochenende dann doch noch sehr erfüllend.
Bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten nimmt man die Außenwelt jeweils anders wahr. Es ist ein Unterschied, ob wir eine Straße mit dem Auto entlangfahren oder mit dem Fahrrad, ob wir joggen oder gemächlich schlendern oder ob wir stehenbleiben und ein Detail am Wegesrand mit Muße betrachten. Erst wenn wir abgebremst haben, können wir bestimmte Dinge überhaupt wahrnehmen.
Beim Zinken bin ich mit variierenden Tempi unterwegs. Das hängt davon ab, ob ich ein langsames Stück spiele oder ein schnelles oder ob ich lange Noten aushalte oder kurze schnell hintereinander perlen lasse. Eine Sache, an der der ich gerade intensiv arbeite, ist das Abbremsen und Innehalten bevor überhaupt ein erster Ton erklingt. Innerlich bin ich vorbereitet auf den Ton, habe ihn beim Hineinhauchen ins Instrument bereits körperlich gespürt, höre ihn richtig intoniert in meiner Vorstellung, habe schon eingeatmet und alle Komponenten für die beabsichtigte Artikulation und Klangfärbung in die richtige Stellung gebracht, bin voller Energie und Spannung – und halte den Klang dann aber aktiv zurück.
In dieser abgebremsten, erwartungsvollen und spannungsgeladenen Haltung kann ich eine unbegrenzte Zeitspanne verweilen bis von irgendwo ein Einsatz oder ein Impuls kommt oder bis ich selber entscheide, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist, den Ton erklingen zu lassen. Diese Technik wende ich nicht nur am Anfang eines Stückes an, sondern bei jedem Neuanfang auch innerhalb eines Stückes, manchmal bereits nach drei gespielten Noten. Ich gewinne das Vertrauen, dass ich vom Klang nicht mehr wie in den ersten Jahren des Zinkens unangenehm überrascht oder überrumpelt werde, sondern mich darauf verlassen kann, dass es klappt. Es ist anstrengende und harte Arbeit, aber die Erfolgserlebnisse häufen sich, zumindest bei guter Tagesform und wenn ich perfekt eingespielt bin. Mittlerweile genieße ich den Moment, bevor es los- oder weitergeht. Es ist noch alles möglich, weil in der hörbaren Realität ja noch gar nichts geschehen ist. Der Klang ist nur in der Vorstellung schon da und ich habe bis der Ton erklingt noch jede nur denkbare Möglichkeit, ihn zu färben und zu artikulieren und ihn flexibel an Reize von Innen oder Außen anzupassen. Das Abbremsen vor jedem neuen Anfang gibt mir die Möglichkeit, diesen bewusst zu gestalten und mit Muße jedes Detail in der vor mir liegenden Passage zu betrachten und zu würdigen. Und manchmal spüre ich bereits während ich den Klang noch zurückhalte: es wird gut.
Vergleichbare spannungsgeladene Augenblicke habe ich in Konzerten erlebt, wenn das Orchester zum Spielen bereit ist, alle ihre Instrumente angesetzt haben, der Dirigent den Taktstock erhoben hat und das Publikum vor Spannung den Atem anhält bis dann endlich der erste Ton erklingt und man weiß und spürt: es wird gut.
In der Adventszeit scheint mir ebenfalls hin und wieder ein Abbremsen ganz sinnvoll zu sein um sich in all der vorweihnachtlichen Hektik die Muße zu bewahren, Details wahrzunehmen. Vielleicht ist in einem abgebremsten Moment dann auch die erwartungsvolle Spannung gegenwärtig, die diese Zeit eigentlich ausmacht und über die wir aber gerne ungebremst hinweghasten. Das Licht, auf das wir warten, hat sich schon angekündigt. In der Realität ist es noch nicht da, aber wir können uns vorbereiten und uns vorstellen, wie es sein wird. Und vielleicht spüren wir: es wird gut!