Flexibilität

Anfang Mai 2020 hat sich unser aller Leben durch die Corona-Krise stark verändert. Nach etwas mehr als sieben Wochen mit zum Teil massiven Einschränkungen hat die Belastung jedes Einzelnen stark zugenommen und ich nehme irritiert eine steigende Aggressivität bei ganz normalen Alltagsbegegnungen wahr. Auch ich selber fühle mich mittlerweile verunsichert von der sich ständig verändernden und zum Teil widersprüchlichen Lage. Hier mein Versuch, damit irgendwie umzugehen:

Seit bald drei Jahren habe ich mittlerweile Zinkunterricht und plage mich seitdem mit den Tücken des Instrumentes herum. Es gibt ein paar unumstößliche Wahrheiten beim Zinken. Eine davon lautet: „irgendwas ist immer“. Beim Zinken spielen unglaublich viele einzelne Faktoren zusammen und die kleinste Störung von auch nur einem dieser Faktoren wirkt sich augenblicklich und unmittelbar auf das Klangergebnis aus. Um einen perfekten Klang zu erzielen kommt es u.a. an auf die Feuchtigkeit der Lippen, ihre Geschmeidigkeit, Unversehrtheit und Spannung, den richtigen Ansatzpunkt, -druck und –winkel des individuell am besten geeigneten Mundstückes, die für jeden einzelnen Ton etwas andere Ausformung des Mundraumes und der Gaumenhöhle, die richtige Luftführung in Bauch- und Brustraum, die vorteilhafteste Luftmenge, das abgestimmte Maß an Spannung bzw. Entspannung im Brustraum, die richtige Fußstellung eine insgesamt schwingende oder schwingfähige Körperhaltung bis hin zu diversen differenzierten Artikulationstechniken.

Man könnte Zinken auch als eine Art Praxis im Dauer-Troubleshooting bezeichnen. Damit meine ich, dass ich durchgehend achtsam auf den Klang höre, permanent etwaige Störungen im Bewegungs- und Tonbildungsablauf registriere, unmittelbar und flexibel angepasst gegensteuere und entsprechende Gegenmaßnahmen aktiviere. Beim Üben habe ich dazu in der Regel ausreichend Zeit. Das Ziel eines perfekten Klanges erreiche ich tatsächlich hin und wieder bei guter Tagesform und idealen Rahmenbedingungen. Unter Stressbedingungen wie zum Beispiel während eines Vorspielens ist das natürlich deutlich schwieriger, weil ich zu keiner Millisekunde in meiner Aufmerksamkeit nachlassen darf und immer nur eine einzige Chance habe, den Klang perfekt zu gestalten und das Ganze nicht in einer Katastrophe enden zu lassen.

In seinem Theaterstück „Terror“ thematisiert Ferdinand von Schirach eine Katastrophe und im Geschehen spielt der Zeitfaktor eine wesentliche Rolle. Terroristen steuern eine Passagiermaschine mit 164 Menschen an Bord auf ein mit 70.000 Menschen voll besetztes Fußballstadion zu. Der Pilot eines Kampfjets entscheidet sich entgegen einem ausdrücklichen Befehl zum Abschuss des Flugzeuges, wertet also das Leben verhältnismäßig weniger Menschen geringer als das Leben der vielen Besucher im Fußballstadion. In seiner Geschichte schildert von Schirach die Gerichtsverhandlung. Es wird dabei jeder motiviert, sich am Prozess des Abwägens hinsichtlich der Wertigkeit von Leben zu beteiligen.

In der beschriebenen Fallkonstellation muss die Entscheidung in einem eng begrenzten, sich stetig verkürzenden Zeitraum getroffen werden ohne die Möglichkeit, diesen zu verlängern. Eine Änderung der Umstände oder ein Modifizieren einzelner Komponenten ist nicht möglich und es gibt auch nur die Wahl zwischen den beiden Alternativen, das Flugzeug abzuschießen oder nicht.

Wir befinden uns derzeit in einer Situation, in der ein Virus unser gesellschaftliches, soziales und wirtschaftliches Leben zum Teil dramatisch verändert. Gefühlt sind wir einer auf uns zukommenden möglichen Katastrophe unkontrolliert ausgeliefert und die verantwortlichen Entscheider versuchen ihr Möglichstes, um Menschenleben zu retten.

Im Gegensatz zu dem eher statischen Handlungsablauf in „Terror“ befinden wir uns aber real in der Situation, dass sich viele einzelne Komponenten und Variablen ständig verändern und weiterentwickeln. Durch frühzeitige Kontaktsperren konnte der anfangs eng begrenzte Zeitraum bis zum Eintritt der befürchteten Katastrophe nach hinten verschoben werden. Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland war auch sehr einsichtig und hat die Maßnahmen mitgetragen.

Der Zeitgewinn verschafft uns bzw. den Entscheidern die Möglichkeit, die einzelnen Faktoren näher zu betrachten und gründlich zu bewerten um dann weitere Schritte zur Vermeidung oder zumindest Minimierung der drohenden Katastrophe zu planen. Zudem wird es möglich, flexibel und situationsangepasst auf die Entwicklungen reagieren zu können. Dies setzt aber natürlich voraus, dass man die gewonnene Zeit tatsächlich auch effektiv nutzt.

Wenn ich beim Zinken stets nur meinen Fokus auf die Lippenspannung richte, lasse ich die vielen unzähligen anderen Möglichkeiten der Klangoptimierung außer Acht und nehme mir dadurch jegliche Chance, einen perfekten Klang zu erzielen, also mein Ziel zu erreichen. Ich sollte eben nicht die Flexibilität verlieren, alle nur denkbaren Variablen zu überprüfen und nach zu justieren.

Wenn ich bei der Bewältigung einer Krisensituation überwiegend nur auf Vertreter einer einzigen Wissenschaftsdisziplin als Berater setze, nehme ich mir die Möglichkeit, andere Perspektiven zu entwickeln und die Entwicklung der Szenarios unter einem anderen Blickwinkel zu bewerten.

Selbstverständlich ist bei einer sich ständig verändernden Lage ein Anpassen der Maßnahmen notwendig. Regelungen, die am Beginn der Krise zunächst notwendig waren, dürfen im weiteren Verlauf hinterfragt werden. Die Wertigkeit von Wissenschaftsdisziplinen darf und muss sich sogar verschieben von ausschließlich Virologie hin zur Berücksichtigung von zum Beispiel wirtschaftlichen Interessen, der Belange von Kindern und Familien, unserer Grundrechte, gesellschaftlichen Entwicklungen u.a.

Durch den Zeitgewinn haben sich vielleicht bereits andere Lösungswege aufgetan. Man hat die Möglichkeit, die Einschätzung der Lage auf belastbares Zahlenmaterial zu gründen. Man könnte ermitteln, ein wie hoher Prozentsatz der Bevölkerung bereits Antikörper gegen das Virus entwickelt hat und dabei keinerlei Krankheitssymptome hatte. Man könnte den Prozentsatz der Todesfälle auf die Gesamtzahl der infizierten Personen beziehen und nicht nur auf die wegen Krankheitssymptomen getesteten. Man darf hinterfragen, ob denn nun die Maskenpflicht wirklich etwas bringt und nicht nur der Bevölkerung ein falsches Gefühl der Sicherheit gibt. Ich darf die kritische Einstellung entwickeln, dass ich nicht in einem Land leben möchte, in dem ich meinen Mitmenschen nicht ins Gesicht blicken kann und in dem ich mich hinter einer Maske vermummen muss, wenn ich demnächst für den Erhalt unserer Grundrechte demonstriere.

Man darf auch diskutieren, ob all die Menschen, die jetzt unter der Kontaktsperre leiden und ihre nächsten Angehörigen oder Freunde zwar sehen, aber nicht aus nächster Nähe spüren dürfen, die vereinsamen oder die sich aller Freude am Leben beraubt fühlen, überhaupt geschützt werden wollen. Man darf sich auch Gedanken machen, ob und wie man abwägen darf zwischen einerseits dem schwindenden Lebenswillen von älteren, aller Kontakte beraubten Menschen oder auch von jüngeren Menschen, die das Gefühl haben, dass ihnen alles genommen wird, was das Leben lebenswert macht und andererseits dem Vorhalten von angemessener medizinischer Versorgung der vergleichsweise wenigen schwer an Covid-19 erkrankten Menschen.

Es gibt keine einfachen Antworten auf die schwierigen und vielschichtigen ethischen, wirtschaftlichen, sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen in der derzeitigen Krise. Es ist auch nicht klar, ob es nur den einen richtigen Weg durch die Krise hindurch gibt oder noch alternative Auswege. Ich darf aber von den verantwortlichen Entscheidern erwarten, dass sie ihre Offenheit bewahren für alle denkbaren Auswegszenarien aus der Krise.

Genauso, wie ich zur Erreichung meines Zieles beim Zinken, dem Erzeugen eines perfekten Klanges, meine Flexibilität täglich trainiere, bewahren sich die verantwortlichen Entscheider hoffentlich ihre Flexibilität um unser aller Ziel, die Corona-Krise weitestgehend unversehrt zu überstehen, unbeschadet zu erreichen.

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