Erwartungen

Ende Januar 2022 gehen mir viele Gedanken durch den Kopf, die sich dann alle zu einer neuen Geschichte zusammengefunden haben. Irgendwie hängt wieder einmal alles zusammen: Feigen, Brötchen, Doppelkopf und Zinken:

Der Feigenbaum in unserem Garten hatte sich sein Leben bestimmt anders vorgestellt. Vielleicht hatte er davon geträumt, in der würzigen Luft Kretas irgendwo einsam in den Bergen und mit Blick auf das blaue Mittelmeer die Sonne zu genießen. Oder im Garten einer spanischen Finca eine Familie Jahr für Jahr mit einem solchen Übermaß an Früchten zu erfreuen, dass die Familie die gesamte Ernte gar nicht alleine aufessen kann und die überzähligen Früchte trocknen muss. Stattdessen steht er nun an der Südwand eines Hauses im kühlen und nebelgrauen Norddeutschland, setzt jedes Jahr eine Unzahl an Früchten an, die er aber nie zur Reife bringt, weil nach einem kurzen Sommer immer unerwartet früh der regnerische Herbst einsetzt. Und zu allem Überfluss steht regelmäßig eine kleine, aufgebrachte Frau vor ihm, überschüttet ihn mit wuterfüllten Tiraden und fuchtelt drohend mit einer Gartenschere, Kettensäge oder Axt vor ihm herum. Nein, das hatte er sich wirklich anders vorgestellt. Aber im Leben kommt es ja oft ganz anders, als man das plant, erwartet oder erhofft.

Wir alle machen häufig Pläne: wenn es erst wärmer ist, mache ich draußen wieder Sport (lege das neue Blumenbeet an, fahre regelmäßig zum See zum Schwimmen, gehe jeden Sonntag im Wald spazieren, mache abends eine kleine Fahrradtour …). Im nächsten Jahr fahre ich endlich mal nach Cornwall (Dresden, Namibia, Dänemark, Hawaii, Karibik, Lübeck …). Im Ruhestand lasse ich es gemütlich angehen (mich durch nichts mehr stressen, mache endlich die große Reise, von der ich schon so lange träume, überwintere auf Kreta, schreibe mich als Gasthörer an der Uni ein, kann endlich ganz viel lesen …). Aber was ist, wenn man aus Versehen schon tot ist, noch bevor man den Ruhestand erreicht hat? Ein einziger Herzinfarkt, Schlaganfall, blöder Unfall oder fiese Krebserkrankung kann ja schon ausreichen und man ist tot. Oder was ist, wenn man den Lebensabend heiteren Gemütes und mit beweglichen Gliedmaßen im Kreise seiner Familie verbringen wollte und dann aber dement, hilflos und mit Pflegegrad fünf in seinem Bett in einem Pflegeheim dahinvegetiert und dann auch noch Corona ist und man wochenlang keinen Besuch empfangen darf und völlig isoliert ist? Das haben mit Sicherheit alle davon Betroffenen so nicht erwartet.

Wir können nicht alles planen. Selbst wenn es genaue Anleitungen für ein Vorhaben gibt, kann das Ergebnis hinterher doch ganz anders aussehen oder auch schmecken als gedacht. Ich habe ein paarmal versucht, am Wochenende frische Brötchen zu backen. Die Ergebnisse sahen auch durchweg gut aus aber die rösche Kruste und das fluffige Innenleben eines Bäckerbrötchens habe ich einfach nicht hinbekommen. Und das, obwohl ich mit unterschiedlichen Zutaten experimentiert habe und den Teig mal kurz, mal lang, nur einmal oder nach zwischenzeitlichem Durchkneten ein weiteres Mal, oder auch über Nacht im Kühlschrank habe gehen lassen. Meine Ergebnisse hatten durchweg außen eine massive Kruste und waren innen nicht fluffig leicht, sondern so reichhaltig, dass ein halbes Brötchen zum Sättigen für einen ganzen Tag ausreicht. Das hatte ich mir wirklich anders vorgestellt.

Manchmal erfüllen sich Träume und auch das kann sich dann völlig anders anfühlen als erwartet. Traditionell spielen wir Heiligabend mit der Familie Doppelkopf. Ich habe fast allen Mitspielenden das Spiel beigebracht und alle haben so gut gelernt, dass sie mich weit überflügelt haben und das Spiel deutlich besser durchschauen als ich. Irgendwie können die anderen durch meine Karten hindurchsehen und wissen meist besser als ich, was ich noch auf der Hand habe. Als Rettung versuche ich mich manchmal an einer unorthodoxen Spielweise, aber da ich auch nicht bluffen und man mir immer alles am Gesicht ablesen kann, laufen auch diese Versuche das Spiel zu gewinnen, ins Leere. Seit langem träume ich davon, endlich einmal an Heiligabend zu gewinnen. Letztes Weihnachten war es dann soweit. Wenn man dem Beweisfoto glaubt, habe ich tatsächlich mit einigermaßen Abstand gewonnen, aber ich habe leider überhaupt gar keine Erinnerung daran! Ein Sohn hatte zu Beginn des Spieles eine Feuerzangenbowle zelebriert. Ich hatte dieses Getränk tatsächlich noch nie in meinem Leben getrunken und war angenehm überrascht, dass auch der vierte Becher noch genauso lecker geschmeckt hat, wie der erste. Und der Grappa hat geschmacklich hervorragend mit der Feuerzangenbowle harmoniert. Ich muss wie beflügelt Doppelkopf gespielt haben aber wie gesagt, das erinnere ich irgendwie gar nicht, sondern entnehme das nur dem Foto.

Auch beim Zinken kommt häufig alles anders, als ich das erwarte. Wenn ich noch nicht richtig eingespielt, erschöpft oder nicht gut drauf bin, mich beim Zinken nicht genügend konzentriere oder den Fokus verloren habe, bin ich manchmal höchst überrascht, wie anders die Töne klingen als ich sie erwartet habe. Meistens prollig laut und trötend und nicht so edel und klar definiert, wie mir das vorschwebt. Für den letzten Unterricht hatte ich eine Stimme aus einem doppelchörigen Stück von Giovanni Gabrieli vorbereitet. Töne, Rhythmus und Intonation haben gestimmt und ich hatte auch eine Vorstellung, wie ich das Stück gestalten wollte. Und dann haben wir das Stück eine Stunde lang auseinandergenommen, seziert, eingehend betrachtet und Schnippel für Schnippel wieder zusammengesetzt. Am Ende des Unterrichts klang das Stück ganz anders als am Anfang, obwohl Töne, Rhythmus und Intonation gleichgeblieben sind. Anders war nun meine Vorstellung von dem Stück. Phrasen, in denen ich fanfarenartig eine Veranstaltung im Circus Maximus eröffne wechseln sich ab mit Sequenzen, in denen ich wahlweise verspielt, aufgeregt, verträumt, schmachtend, energisch, brutal, zärtlich, laut, leise, humpelnd, ersterbend oder quicklebendig agiere. Ich hätte nicht gedacht, dass meine veränderte Vorstellung eine solch gravierende Wirkung haben kann.

Oft plane ich etwas im Leben, erwarte Situationen oder erhoffe mir etwas. Und wenn es dann eingetreten ist, scheint es ganz anders zu sein, als ich mir das gedacht hatte. Wahrscheinlich sollte ich mit dem Vorausdenken und -planen da aufhören, wo es nicht überlebenswichtig ist und Situationen einfach nehmen, wie sie kommen.

So könnte ich zum Beispiel die Erinnerung an den wunderbaren und von Lachen erfüllten Spieleabend mit der Familie wachhalten und meinen Ärger darüber, dass ich nicht mehr erinnere, dass ich gewonnen habe, einfach loslassen. Ich könnte mich freuen, dass die von mir gebackenen Brötchen keine bedenklichen Sonderzutaten enthalten, sondern gesund sind und langanhaltend sättigen. Ich könnte gleich, wenn ich mit dieser Geschichte fertig bin, für einen Spaziergang an die frische Luft gehen, auch wenn es gerade regnet. Wenn dann irgendwann die Sonne scheint, kann ich ja einfach ein zweites Mal rausgehen. Ich muss auch den lang erträumten Urlaub nicht noch Jahre aufschieben, sondern könnte ihn für dieses Jahr planen. Und die Idee, mich mehr zu entspannen und nicht so leicht stressen zu lassen, sollte ich unbedingt zeitnah umsetzen um die Gefahr, dass ich schon tot bin noch bevor ich den Ruhestand erreicht habe, zu verringern.

Dinge und Situationen kann ich in der Regel nicht verändern, wohl aber meine Haltung dazu. Und so nehme ich mir vor, mich in diesem Jahr nicht schimpfend und mit einer Kettensäge bewaffnet vor unseren Feigenbaum zu positionieren, sondern mit einer Gießkanne in der Hand und vielen lobenden Worten für seine unermüdlichen Versuche, uns ganz viele Feigen zu schenken.

Und wenn dann tatsächlich wider Erwarten eine Feige reifen sollte, werde ich sie dankbar genießen.       

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