Ruhe

Mitte Oktober 2022 hat eine Unterrichtsstunde bei einem Posaunisten dazu geführt, dass mir wieder eine Zinkgeschichte eingefallen ist. Es geht viel ums Zinken, Akkorde und Intonation. Ich denke aber, dass ich eine ganz grundlegende Erkenntnis auch auf die Zeit übertragen kann, in der ich gerade mal nicht zinke.

Das cis“ und ich sind ich keine Freunde. Beim Zinken gibt es eigentlich nur die vier Töne g‘, a‘, h‘ und c“, die beim normalen Chorzink in G einigermaßen gefällig liegen. Obwohl auch das a‘ natürlich einige Besonderheiten hat und bei mir, wenn ich nicht aufpasse, ein wenig offen und quäkig klingt. Und das h‘ neigt dazu, zu hoch und scharf zu sein, wenn ich nicht mit einer Vergrößerung des Mundraumes oder dem Auflegen eines weiteren Viertel-Fingers gegensteuere. Ab dem f‘ abwärts muss ich mit zunehmend mehr Baucheinsatz und abnehmender Spannung die Töne erzeugen und ab dem d“ aufwärts erfordern die Töne, je höher es geht, ein immer extremeres Hochziehen irgendwie und irgendwo im hinteren Gaumenbereich und mehr Spannung. Keiner hat je behauptet, Zinken sei leicht! Jeder (!) einzelne Ton auf dem Zink erfordert seine eigene, individuelle und ganz besondere Einstellung aller für die Klangerzeugung zur Verfügung stehenden Stellschrauben und muss einzeln erlernt werden.

Aber das cis“ ist nun noch einmal eine ganz eigene Herausforderung für mich. Zusätzlich zur richtigen Stellung aller übrigen Komponenten zur Erzeugung dieses Tones in Mundraum, Bauch, Brust und den Lippen muss ich das Instrument etwas nach links unten drehen und mich quasi in meiner Körpermitte ein wenig verwringen. Mein Zinklehrer hat mal vor längerer Zeit gesagt, wenn es sich verquer im Körper anfühle, sei das cis“ richtig. Zumindest erinnere ich seine Aussage so. Und das hat dazu geführt, dass ich mich beim Zinken, immer wenn ein cis‘‘ kommt, darauf fokussiere, ein komisches Körpergefühl zu haben.

Auch die Intonation und ich sind ja leider nicht immer gute Freunde. Meistens passt es zwar einigermaßen aber ich hadere häufig damit, dass ich nicht wirklich an einem greifbaren Raster oder einer DIN-Norm festmachen kann, ob meine Intonation im Zusammenklang mit anderen richtig ist. Wenn ich alleine übe, kann ich natürlich meine Stimmgeräte App anmachen und visuell erfassen, ob mein Klang im roten oder grünen Bereich ist. Bei meiner App rotiert zusätzlich zu den Farben ein unvollständiger Kreis schnell, wenn ich weit von der richtigen Intonation entfernt bin und langsamer, wenn ich mich ihr nähere. Hin und wieder kommt der Kreis auch ganz zur Ruhe, das freut mich dann immer sehr. Aber eigentlich will ich mich ja beim Musizieren nicht mit den Augen orientieren, sondern mit den Ohren.

Wenn ich mit anderen zusammen musiziere, habe ich die Stimmgeräte App nicht aktiviert, sondern versuche, irgendwie zu hören, ob ich im Zusammenklang richtig bin oder nicht. Erschwerend kommt für mich dabei hinzu, dass ich extreme Schwierigkeiten habe, den sogenannten Differenz- oder Kombinationston zu hören. Wenn beispielsweise eine Quinte absolut rein gestimmt ist, hören viele Menschen einen weiteren Ton, eben den Differenzton, und wissen dann, dass der Akkord stimmt. Ich habe ein einziges Mal in einer Unterrichtssunde so etwas gehört. Mein Lehrer hatte in dieser Stunde mit viel Geduld an den Pfeifen einer Truhenorgel herumgeschraubt und dadurch den Tonabstand einer Quinte verändert. Ich meine mich zu erinnern, dass ich so komische Wellen, ein Brummen oder Schwingungen gehört habe, wenn der Klang unsauber war und dann tatsächlich auch den Differenzton, als der Akkord rein war.

Beim Zusammenspiel mit anderen versuche ich bei länger gehaltenen Akkorden diesen Differenzton wieder zu hören, schaffe das aber nie. Wenn wir im Ensemble einen Akkord stimmen, ziehe ich meinen Ton in der Höhe von oben nach unten und wieder zurück und halte dann irgendwo an, wenn ich meine, dass es stimmen könnte. Aber woran ich es festmachen soll, dass der Akkord stimmt, weiß ich nicht. Ich soll da, so mein Lehrer, auf mein Gefühl vertrauen. Das erscheint mir aber sehr vage. Ich hätte gerne ein Raster, eine Regel oder ein Einrasten des Tones im Brustbein, wie es mein Bass-Dulcian-Freund aus Erlangen beschreibt. Das funktioniert bloß leider für mich nicht.

Kürzlich haben mein Bass-Dulcian-Freund und ich eine wunderbare Ensemble-Unterrichtsstunde bei dem Posaunisten Detlef Reimers gehabt. Wir haben uns in der Stunde beim Erarbeiten eines Stückes auch mit der Intonation eines A-Dur Akkordes beschäftigt, also A – Cis – E, und ich musste natürlich das blöde cis spielen, das als Terz in mitteltöniger Stimmung sehr tief liegt. Bass-Dulcian und Posaune haben ihre Quinte wunderbar stabil gehalten und ich habe mich auf das bei diesem Ton erforderliche blöde Körpergefühl und meine verwrungene Körpermitte fokussiert, das cis‘‘ getrötet und meine Sinne vergeblich auf die Suche geschickt nach einem Differenzton irgendwo in Raum und Zeit. Ich war in dieser Situation einigermaßen unzufrieden mit mir.

Im Verlaufe der Beschäftigung mit diesem Akkord gab Detlef dann aber einen sehr weisen Ratschlag. Er erzählte, dass nach seinem Empfinden bei absolut rein gestimmten Akkorden eine Ruhe entsteht. Alle Schwebungen und alles Brummen sind dann weg, alles schwingt in Harmonie. Er versucht, diesen Zustand der Ruhe zu erspüren und zu erreichen. Das ist für mich nun eine völlig neue Herangehensweise an Intonation bzw. an mein Problem, das ich mit ihr manchmal zu haben meine. Statt dass ich mich auf mich und mein Körpergefühl konzentriere und versuche, etwas Konkretes zu hören von dem ich eigentlich weiß, dass ich es nicht hören kann, weite ich alle meine Sinne aus um einen Zustand der Ruhe zu erspüren. Das funktioniert nur, wenn ich mein krampfhaftes Bemühen, etwas richtig machen zu wollen, etwas richtig hören zu wollen, meinen Körper auf die richtige Weise spüren zu wollen, loslasse, meine Sinnesgrenzen weite und es geschehen lasse, dass Ruhe einkehrt.

Die Intonationsprobleme, mit denen ich so große Kämpfe ausfechte, liegen ja doch ehrlicherweise im ganz geringen Cent-Bereich. In dem Augenblick, in dem ich entspanne und meine Aufmerksamkeit auf die Ruhe richte, kann diese geschehen und die Intonation ruckelt sich um die erforderliche Winzigkeit wie von alleine passend zurecht.

Vielleicht ist das nicht nur beim Zinken so? Vielleicht kann auch in allen anderen Lebensbereichen Ruhe einströmen, wenn man sie einlädt, wenn man alles krampfhafte Wollen aufgibt, wenn man sich nicht mehr ausschließlich nur auf das eigene Empfinden fokussiert. Und vielleicht lassen sich so auch leichter Probleme lösen, die man zu haben meint. Wenn wir alle immer mal wieder versuchen, diese Ruhe zu erspüren, die entstehen kann, wenn alles im Gleichklang ist und harmonisch miteinander schwingt. Wenn wir alle unsere Aufmerksamkeit lösen von unseren individuellen Egos und versuchen, ein Gespür für das Große und Ganze zu entwickeln.

Diese neue Haltung werde ich jedenfalls nicht nur beim Zinken ausprobieren, sondern auch sonst im Leben und vor allem beim Betrachten und Lösen von Problemen. Und beim Zinken werden das cis“ und ich bestimmt doch noch unseren Frieden miteinander schließen, ich bin da sehr zuversichtlich. Vielleicht ist das sogar der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

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