Ich stehe in einem kleinen Raum, schräg vor mir ein mannshoher Spiegel, neben mir mein Lehrer. Ich schwitze. Das Gebäude in dem ich mich befinde ist komplett eingerüstet. Draußen finden irgendwelche Arbeiten an der Fassade statt. Deshalb dürfen die Fenster nicht geöffnet werden. Es ist schlechte Luft hier drinnen. Habe ich gesagt, dass ich schwitze? Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Das Wasser steht mir im Gesicht, ich bin klatschnass. Mir ist zwar altersbedingt derzeit tendenziell schnell mal warm, aber das hier? Peinlich. Wieso um alles in der Welt stehe ich hier eigentlich und tue mir diese Situation an? Wie bin ich denn hier bloß her geraten?
Wer mich kennt weiß, dass ich ein sehr strukturierter Mensch bin. Wenn ich Musik höre, muss ich wissen, wo die „Eins“ ist, sonst werde ich unruhig und kann das Stück nicht genießen. Das Duett „don’t give up“ von Peter Gabriel und Kate Bush hat mich schier wahnsinnig gemacht, bis ich Takt und Rhythmus des Anfangs endlich entschlüsselt hatte. Ich mag Excel-Tabellen, übersichtlich gestaltete Dokumenten-Vorlagen, meine Terminplanung, effiziente Verfahrensabläufe, klare Absprachen, ergebnisorientierte Besprechungen, Pünktlichkeit, einen aufgeräumten Arbeitsplatz und ja, meine Yoga Matte kann nicht irgendwie schief im Raum liegen, das muss schon parallel zu irgendeiner festen Bezugsgröße sein. Ein gewisses Maß an Spleenigkeit kultiviere ich mit einem kleinen Augenzwinkern durchaus ganz gerne. Dazu passt vielleicht auch, dass ich Treppenstufen zähle. Es gibt tatsächlich Häuser, in denen die Treppen von einer Etage zur anderen 15 Stufen haben, oder 17. Das fühlt sich total unrhythmisch an und geht gar nicht!
Struktur bietet Sicherheit und Halt. Dass sie aber gleichzeitig immer auch begrenzt und einengt begreife ich erst jetzt so langsam. Meine Struktur war schon immer mit Kreativität gefüllt, dadurch an der Oberfläche nicht spürbar und für mich gut zu ertragen.
Erste Ansätze, meine Begrenzungen anzutasten gibt es seit ca. fünf Jahren. Die Kinder sind aus dem Haus, das verschafft ungeahnte Freiräume. Die Notwendigkeit, für und mit den Kindern feste Tagesstrukturen und Rituale zu leben, besteht nicht mehr. Ich finde auch, mit der fünften Null im Leben darf man hinterfragen, ob die Erwartungen, die man selber, die Familie, die Nachbarn, die Kollegen und sonstige Menschen an einen haben, tatsächlich real sind oder sich nur im eigenen Kopf abspielen. Und man darf sich von diesen echten oder gedachten Erwartungen auch frei machen. Mir persönlich fällt das mit Erwartungen anderer mittlerweile relativ leicht, mit meinen eigenen Erwartungen an mich selber leider eher noch nicht so.
Vor viereinhalb Jahren habe ich dann einen Sprung gewagt in ein völlig neues Arbeitsumfeld in einer großen Stadt. Ich habe mich gelöst von verkrusteten Hierarchiestrukturen, veralteten Leitungsidealen und einengenden Arbeitsabläufen und bin in einem warmen und wertschätzenden Arbeitsklima mit flachen Hierarchien und ungeahnten Freiräumen und Entwicklungsmöglichkeiten gelandet. Auch im Fitnessstudio habe ich mich von starren Bewegungsabläufen eingezwängt in große Maschinen gelöst und turne frei und zufrieden auf meiner Matte vor mich hin. Ich dehne Grenzen aus und nichts Schlimmes passiert. Es ist sehr inspirierend und ich beginne zu ahnen, dass noch viel mehr möglich ist und dass ich noch viel mehr Begrenzungen ablegen kann.
Und dann ist mir irgendwann dieser Stille Zink in die Hände gefallen. Ein rätselhaftes Instrument. Ich versuche etwa ein halbes Jahr lang mit aller Kraft, dem Zink ein paar Töne zu entlocken. Es ärgert mich, dass mir das nicht so richtig gelingen will. Es ist das erste Instrument, auf dem ich nicht nach einer Woche mindestens eine Tonleiter spielen kann. Schließlich nehme ich zögerlich Kontakt auf mit einem Zink-Lehrer, der mir dann in einer sehr motivierenden Mail tatsächlich Unterricht anbietet.
Und so stehe ich jetzt also hier und schwitze. Ich habe ein Instrument von Gebhard in der Hand, weil mein Stiller Zink gar kein Zink ist sondern eine Zumutung. Ich soll ungefähr tausend Sachen gleichzeitig machen: Lippe einrollen, Unterkiefer vor, erstaunt gucken und zwar auch beim Ausatmen, nur hauchen, richtige Ansatzstelle am Mund treffen, Instrument im richtigen Winkel halten mit dem genau richtigen Ansatzdruck, Schultern und Hals entspannen aber natürlich Stütze aktivieren und den Ton nach vorne unten denken, den Hals dabei weit lassen und in der Brust nicht eingeengt sein. Dann machen wir auch noch immer so komische Trockenübungen. Gebhard produziert merkwürdige gesangähnliche Geräusche und ich soll das nachmachen. Das geht gar nicht, ich mache zu, will am liebsten raus aus der Situation. Okay, sagt Gebhard, dann mach das mal mit Instrument. Und da kommt dann als Ergebnis nur heiße Luft raus. Macht nichts, sagt Gebhard. Er könne den Ton schon hören. Perspektivisch dauere es sowieso ungefähr ein Jahr, dann erst könne man verlässlich einen Ton produzieren und dann fange es auch an Spaß zu machen. Man müsse nur durchhalten bis dahin. Ich mache das aber schon echt super.
Gut, mittlerweile kommt fast immer ein Ton und manchmal klingt der dann auch schon richtig schön. Aber welcher Ton ist das bloß? Ich hänge in der Luft, brauche einen Referenzton und möchte außerdem mit Druck erreichen, dass der Ton auch wirklich kommt, wann und wie ich das will. Ich versuche also gleichsam, den Ton in eine Struktur zu zwängen, die allerdings wohl nur in meinem Kopf besteht. Gebhard will nun aber, dass ich am Klang arbeite. Es sei doch jetzt am Anfang erstmal völlig egal, welchen Ton ich da greife, wichtig sei der Klang. Und ich müsse den Ton auch gar nicht irgendwie forcieren, er sei vielmehr schon da, ich müsse ihn nur finden bzw. kommen lassen und dann ausbauen.
Das ist für mich nun ein komplett neues Gedankensystem, das ich erstmal verinnerlichen muss und das in der Konsequenz für mich ja nicht nur in der Musik ganz viel verändert: Vorrangig nicht an den Noten arbeiten sondern den Fokus auf den Klang richten. Nicht mit Druck Musik erzeugen sondern zulassen, dass sie geschieht. Dem Klang in mir Raum geben und dann rauslassen. Nicht die Struktur in den Vordergrund stellen sondern den Inhalt. Die Arbeit mit dem Zink ist die Arbeit an meinen Grenzen. Das strengt an, geht tief und bringt mich zum Schwitzen.
Von Unterricht zu Unterricht läuft es besser. Ich kann besser loslassen und schwitze auch längst nicht mehr so schlimm. Das Gebäude ist mittlerweile saniert, das Gerüst entfernt, die Fenster kann man wieder öffnen. Ab und zu kommt manchmal nur heiße Luft aus meinem Zink, aber das ärgert mich gar nicht mehr immer. Ich weiß, dass der Klang da ist und ich ihn nur ganz entspannt einladen muss, sich wunderschön und großartig in seiner Reinheit und Klarheit zu entfalten. Es tut gut zu spüren, wie Begrenzungen sich auflösen.
Darum stehe ich hier, und ich will auch nirgendwo anders sein als eben ganz genau hier und genau jetzt!