In der jüngsten Ausgabe (6.21) der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“ bin ich auf einen interessanten Artikel des Schriftstellers und Wissenschaftspublizisten Michael Springer gestoßen. Er beschreibt darin das Phänomen, dass zwar mathematisch betrachtet Addition und Subtraktion gleichrangige Grundrechenarten sind, wir Menschen aber dazu neigen, Probleme eher durch Hinzufügen zu lösen als durch Wegnehmen. In einer sozialpsychologischen Versuchsreihe sahen sich Probanden damit konfrontiert, z.B. eine wacklige Legokonstruktion zu stabilisieren oder ein Farbmuster symmetrisch zu gestalten. Obwohl das Hinzufügen von Elementen Spielgeld kostete, bevorzugten die meisten Testteilnehmer eine additive Lösung, indem sie stützende Legosteine einbauten oder Farbfelder hinzufügten. Dabei hätte es für jede der Problemstellungen eine elegante Lösung durch Wegnehmen von Legosteinen oder Farbfeldern gegeben. Auch nach Hinweis auf die Möglichkeit des Wegnehmens, blieben die meisten Probanden bei ihrer additiven Lösung.
Offenbar haben wir Menschen eine tiefsitzende Prägung, die uns nahelegt, Probleme lieber mit immer komplexeren Zusätzen zu versehen, als sie durch elegante Vereinfachung aus der Welt zu schaffen. Als möglicher Lösungsansatz bietet sich der bis vor kurzem bestehende technologische Mangel an. Wir haben in Jahrtausenden gelernt, dass es besser ist, Dinge zu sammeln und zu horten, als sie wegzuschmeißen. Das mögen in der Steinzeit Feuersteinsplitter, Brennholz und angefressene Fettreserven für Hungerzeiten gewesen sein. Heutzutage kann es sich um unzählige Tupperdosen handeln, die man vielleicht noch mal mit irgendetwas füllen könnte, eine große Menge Schrauben in verschiedensten Größen für alle nur denkbaren Reparaturen und Basteleien, massenweise Schuhe für jegliches mögliche Outfit, Berge von Legosteinen für noch nicht geplante Großbauprojekte, Tonnen von Geld auf dem Konto als Altersrücklage und angefressene Fettreserven für Hungerzeiten.
Was wir einmal haben und vielleicht auch noch irgendwann einmal weiterverwenden können, das geben wir so schnell nicht wieder her. Diese Neigung hat zu einer ausufernden Steuergesetzgebung geführt, die kaum noch jemand durchschaut und die auch lange schon nicht mehr gerecht ist. In jüngster Zeit werden die unzähligen Corona Verordnungen nahezu wöchentlich durch Hinzufügen weiterer Bestimmungen und Regeln und von Bezügen und Quer- und Rückverweisen immer komplizierter und sind kaum noch zu verstehen. Trotzdem enthalten sie Graubereiche und Schlupflöcher, die von findigen Menschen ausgenutzt werden und zu so kuriosen Umständen führen, dass ich zwar, natürlich unter Einhaltung bestimmter Regeln, mit einigen anderen Menschen zusammen im Fitnessstudio 75 Minuten lang Sport treiben und dabei zusammen mit ihnen schwer atmen darf, auf der anderen Seite aber mit ebenso wenigen anderen Menschen in einem um das Vielfache größeren Kirchenraum nicht einmal für fünf Minuten gemeinsam singen darf.
Im Hinblick auf Corona versuchen wir, durch ein (zum Teil völlig unsinniges und überflüssiges) Addieren verschiedener Maßnahmen die Ausbreitung des Virus zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Ist es denn wirklich notwendig, dass sowohl Besucher als auch Bewohner eines Pflegeheims weiterhin beide eine Maske tragen, wenn der Besucher bereits einmal geimpft wurde, einen tagesaktuellen negativen Test vorweisen kann, der Bewohner des Pflegeheims bereits vollständigen Impfschutz hat, beide sich draußen treffen und sich nicht berühren? Und warum galt in einigen Einrichtungen die Pflicht, eine Maske zu tragen, selbst wenn man durch eine raumhohe Plexiglasscheibe voneinander getrennt in gut gelüfteten und desinfizierten Räumlichkeiten versucht hat, mit dem Gegenüber irgendwie Kontakt zu bekommen?
Wenn wir Menschen uns an Regeln und Maßnahmen gewöhnt haben, können wir diese anscheinend nur extrem schwer wieder aufgeben, auch wenn sie doch eigentlich bereits überflüssig geworden sind. Möglicherweise vermitteln uns bestimmte Maßnahmen wie beispielsweise eine medizinische Maske die Illusion von Sicherheit und zudem das Gefühl, auch aktiv etwas tun zu können und dem Geschehen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Selbst wenn bei näherer Betrachtung oder ein bisschen eigenem Nachdenken das Weglassen einzelner Maßnahmen keinem einen Schaden zufügt.
Beruflich habe ich viel zu tun mit Schriftsätzen von Rechtsanwälten in gerichtlichen Verfahren. Während ich bemüht bin, das zugrundeliegende Problem zu erkennen und zu lösen, scheint es eine beliebte Strategie einiger der Anwälte zu sein, kreativ alle nur denkbaren oder möglicherweise vielleicht irgendwie passenden Paragraphen und Urteile anzuführen und zu zitieren, Nebenkriegsschauplätze aufzumachen und den eigentlichen Sachverhalt zu vernebeln und zu verkomplizieren. Manchmal ist es dann sehr schwer, das Kernproblem nicht aus dem Fokus zu verlieren und sich nicht in nebensächlichen Streitigkeiten aufzureiben, sondern weiterhin auf eine konstruktive Lösung des Problems hinzuwirken.
Auch in Konflikten kann es hilfreich sein, nicht alle im Laufe des Lebens angesammelten negativen Gefühle und erfolgten Verletzungen in einen Streit mit einzubringen und nicht durch immer neue Vorwürfe und Argumente den Konflikt weiter zu vergrößern und zu verlängern. Im beruflichen Umfeld trainiere ich gerade aktuell in einer augenblicklich sehr herausfordernden Situation, meinen inneren Widerstand komplett aufzugeben und sozusagen geschmeidig und durchlässig zu werden, damit eine bestehende Konfliktlage nicht noch zusätzlich angereichert wird und weiter eskaliert. In Widerstand kann ich dann ganz punktuell, sachlich und zielgerichtet gehen gegen die wenigen Maßnahmen, mit denen ich mich tatsächlich nicht einverstanden erklären kann und wo ich nicht bereit bin, einen Kompromiss einzugehen oder mich schmerzhaft zu verbiegen.
Beim Zinken habe ich unzählige Techniken gelernt um einen schönen Klang zu erzeugen und ein Musikstück ansprechend vorzutragen. Viele komplexe Bewegungsmuster muss ich immer wieder neu und anders miteinander kombinieren um auf die permanenten Störungen beim Zinken angemessen zu reagieren. Allerdings muss ich das sehr zielgerichtet tun und manchmal hilft nicht ein „noch mehr“, sondern ein „weniger“. Jeder einzelne Zink-Klang ist immer absolut ehrlich und eine Essenz des jeweiligen Augenblicks. Er enthält alle Gegensätze gleichermaßen in einem genau richtig austarierten Maß: Höhe und Tiefe, Brillanz und Erdigkeit, Anspannung und Entspannung, Leichtigkeit und Schwere, Ying und Yang.
Beim Zink-Üben arbeite ich täglich daran, ein perfektes Gleichgewicht hinzubekommen. Wenn ich einen schönen Klang erreiche weiß ich, dass ich zumindest in dem Klangmoment in innerer Harmonie bin. Bei Vortragssituationen ist das häufig noch anders, da können ja jede Menge Faktoren stören wie trockene Lippen, das Bedürfnis, zu unpassender Zeit zu schlucken, zu viel Luft, Zuhörer, eigene Patzer und die von Mitspielern, Nervosität und zu viel Anspannung. Eine nicht durch Entspannung ausgeglichene Anspannung bewirkt bei meinem Zinken ein Höherwerden der Töne. Dann stimmt die Intonation nicht mehr und ich versuche automatisch, das Problem durch ganz viele zusätzliche Maßnahmen oder Techniken zu lösen. Das klappt aber nicht und meine Anspannung und damit die Intonations- und in der Folge auch noch andere Probleme nehmen zu. Wie schwer ist es doch, in solchen Augenblicken durch das Weglassen von unnützen Maßnahmen und durch das Zulassen von Entspannung meinen schönen Zinkklang wiederzufinden. Aber wie schön ist es, wenn es gelingt. Dann werde ich durch einen perfekten und edlen Zinkklang für all meine Mühen belohnt und darf spüren und hören, dass mich das Weglassen, Loslassen und Entspannen sehr viel weiterbringt als das Sammeln, Anhäufen und Festhalten.
Vielleicht sollte man auch sonst im Leben Subtraktion und Addition mehr ins Gleichgewicht bringen?