Orientierung

sollte man sich im Außen oder im Innen orientieren? Meine Überlegungen dazu aus April 2018:

In meinem Alltag schalte ich bei immer wiederkehrenden Situationen und Handlungen in der Regel auf Autopilot und orientiere mich mit halb wachen Sinnen optisch, akustisch und haptisch in Raum und Zeit. Wenn ich zum Beispiel morgens am belebten Bahnhof aus meinem Pendlerzug steige, trotte ich inmitten der Menschenmenge in Richtung Ausgang, ohne groß über den Weg nachzudenken. Im weiteren Verlauf meines Arbeitsweges schaue ich beim Überqueren der Straße selten auf die Fußgängerampel sondern setze mich in Bewegung, wenn alle anderen um mich herum losgehen.

Nach dem frühen Aufstehen in der Woche ist mein morgendlicher Ablauf zum großen Teil automatisiert und zeitlich so gestaltet, dass ich meinen Zug gut erreiche, aber nicht erst noch lange am Bahnhof warten muss. Ich liege dann optimal in der Zeit, wenn im Radio eine neue Folge einer bestimmten Comedy-Serie läuft während ich mich gerade anziehe. Am ersten Arbeitstag nach Ostern habe ich mich gefreut über die gute Musik im Radio und habe beim Warten auf die Comedy ein bisschen getrödelt. Was ich nicht wusste war, dass einer meiner Söhne, der uns über Ostern besucht hatte, einen anderen Radiosender eingestellt hat. Bis ich das realisiert hatte, war bereits so viel Zeit vergangen, dass ich meinen Zug dann leider verpasst habe.

Auch beim Autofahren führe ich viele Bewegungen aus ohne groß darüber nachzudenken. Allerdings sind in unseren beiden Autos die Bewegungsrichtungen des Scheibenwischerschalters mit unterschiedlichen Funktionen belegt. Beim Wechseln von meinem kleinen auf unser großes Auto stelle ich daher, wenn ich eigentlich vorne die Wisch-Wasch-Anlage aktivieren will, stattdessen regelmäßig den Scheibenwischer hinten an. Und wenn ich mit der Satelliten-Schaltung am Lenkrad wie beim kleinen Auto mit dem linken Daumen das Radio lauter machen will, erhöhe ich beim großen Wagen damit dann die Geschwindigkeit durch Hochregeln des Tempomaten. Meinen Fehler bemerke ich aber immer relativ schnell daran, dass die Musik gar nicht lauter wird. Unser neues großes Auto ist ein Automatik-Fahrzeug und erst war ich besorgt, dass mir das Wechseln von meinem kleinen Schaltwagen auf Automatik im großen Wagen schwer fallen könnte. Immerhin habe ich aber dort bislang noch nicht während des Fahrens geschaltet oder, was deutlich fataler wäre, die nicht vorhandene Kupplung (also im großen Auto das Bremspedal) mit Schwung durchgetreten.

Zu Ostern waren zwei unserer Jungs zuhause und einen Abend sind wir zum Essen gefahren. Weil sich in unserem großen Auto von der Wohnungsauflösung unseres Ältesten noch Umzugskartons, auseinandergebaute Möbel und eine Waschmaschine stapelten, haben wir uns in meinem kleinen Wagen zusammengedrängt und ich habe ihn zunächst ganz normal gestartet. In meinem Auto haben aber noch nie so viele Menschen gesessen und wenn wir als Familie unterwegs sind nehmen wir gewöhnlich immer das große Auto. Daher war ich kurzzeitig etwas verwirrt, wähnte mich im anderen Auto und habe dann folgerichtig zum Losfahren die Start-Automatik unseres großen Wagens aktiveren wollen. Dafür habe ich die Bremse getreten und gleichzeitig auf den runden Lautstärke Regler des Radios gedrückt. Da der Wagen ja aber schon lief, haben wir einen kleinen Satz nach vorne gemacht. Das war zumindest für meine Mitfahrer sehr erheiternd.

Es gibt aber auch Gelegenheiten, bei denen sich jegliche Handlung in Raum und Zeit nicht am Außen oder am immer wiederkehrenden Gewohnten orientiert sondern ausschließlich an mir und meinem Inneren. In diesen Situationen und Augenblicken bin ich dann mit allen Sinnen hellwach. Zum einen geschieht das regelmäßig in meinen Yoga – Stunden, bei denen ich mich völlig auf mich, meinen Atem, mein Lächeln und das Hier und Jetzt konzentriere und im Idealfall alles, was um mich herum gerade passiert, zu einem früheren Zeitpunkt geschehen ist oder zukünftig auf mich zukommen könnte, loslasse.

Zum anderen ist da mein tägliches Zink-Üben, bei dem ich gerade schwer lernen muss, mich ausschließlich an mir selber zu orientieren, minimale Veränderungen in meiner Körperhaltung und -spannung wahrzunehmen  und mich auf kleinste Details und Bewegungsabläufe zu fokussieren um einen Klang zu erzeugen, der dann sowohl von der Intonation als auch von der Ausformung und Gestaltung her derzeit noch ohne Bezug zu irgendetwas anderem frei im Raum schwebt und zwar so, wie ich ihn vorher in meiner Vorstellung bereits gehört habe. Am Anfang jeder Unterrichtsstunde während des Aufwärmens brauche ich immer einige Zeit um mich auf die Situation einzulassen, mich allein auf mich zu konzentrieren und einen Klang zu finden, mit dem wir dann im Unterricht weiterarbeiten können. Alles andere um mich herum blende ich in dieser Phase ganz bewusst und ziemlich deutlich als störend aus.

Mir fällt auf, dass die Dinge, die mich dazu zwingen mich auf mich selbst zu besinnen, die mich mit allen Sinnen hellwach sein lassen und die mir dadurch gut tun, im Alphabet ausnahmslos ganz hinten eingeordnet sind. Zink und Yoga habe ich ja nun schon in meinem Alltag als Training für ein bewusstes Leben im Hier und Jetzt fest etabliert. Vielleicht sollte ich auch noch Xylophon Unterricht nehmen und mich über Wattwandern und Vögel beobachten dann so langsam im Alphabet nach vorne in Richtung „A“ orientieren. Irgendwann werde ich dann, zur Freude und Erleichterung meiner Familie, beim Autofahren angekommen sein, wahrscheinlich aber erst, wenn sich sowieso schon das Autonome Fahren etabliert hat.