Wir alle müssen unser Leben lang ständig Entscheidungen treffen. Es gibt große und kleine Entscheidungen. Einige sind weitreichend und wichtig, andere beeinflussen unser Leben nur kurzzeitig oder am Rande. Es gibt Menschen, die in der Regel schnell eine Entscheidung treffen und diese dann umgehend mit allen Konsequenzen umsetzen und durchziehen. Andere können sich nur sehr zögerlich entscheiden und hinterfragen im weiteren Verlauf des Geschehens immer wieder die Richtigkeit ihrer Wahl. Wenn wir uns entscheiden, greifen wir bewusst aber vor allem auch unbewusst zurück auf alle Erfahrungen, die wir in unserem bisherigen Leben gemacht haben. Unsere Entscheidungen sind daher für uns selber logisch, auch wenn ein anderer Mensch unsere Wahl möglicherweise nicht nachvollziehen kann und selber in einer vergleichbaren Situation einen anderen Lösungsweg eingeschlagen hätte.
In einem Seminar habe ich einmal den einprägsamen Satz gehört, dass wir Menschen dazu neigen, immer wieder auf ein totes Pferd zu steigen, mit anderen Worten also immer wieder dieselben Fehlentscheidungen treffen und nichts dazu lernen. Ich bemühe mich, ab und an auch mal auf einen Esel zu steigen oder ein Kamel oder ein Fahrrad. Auch auf einem Elefanten würde ich gerne einmal reiten, wenn sich die Gelegenheit ergeben sollte. Das tote Pferd, auf das ich immer steige, ist die garantiert langsamste Schlange an den Supermarktkassen. Da stelle ich mich mit traumwandlerischer Sicherheit genau da an, wo ich das entspannte Warten üben darf, während links und rechts von mir die Kunden in doppeltem oder dreifachem Tempo abgefertigt werden.
Letztens habe ich beim Kauf einer neuen Gesichtscreme eine bedauerliche Fehlentscheidung getroffen. Da ich ja nun unaufhaltsam älter werde habe ich gedacht, dass ich meine Gesichtshaut mit einer hochwertigen Tagescreme für die anspruchsvolle, reife Haut verwöhnen sollte. Leider war der neuen Creme ein Duftstoff beigemischt, den ich nicht so gerne riechen mochte. Wegschmeißen wollte ich die Tube jetzt auch nicht einfach, da hätte ich auch gleich mein Geld ins Altpapier werfen können (oder gehört Papiergeld in den Restmüll?). Ich habe mich dann dafür entschieden, die Creme, die ja eigentlich nur für das Gesicht gedacht war, auch für Hals, Dekolleté und Hände zu benutzen. Es hat ja keiner gesehen, dass ich das teure Produkt nicht ausschließlich zweckentsprechend verwendet habe. Die Creme war dann sehr schnell aufgebraucht und die Spannkraft der Haut meiner Hände hat sich erfreulicherweise auch sichtlich verbessert. Jetzt verwende ich wieder meine gewohnte, duftneutrale Creme und habe entschieden, hier die nächsten Jahre erstmal keine weiteren Experimente durchzuführen.
Beim Zinken übe ich täglich aufs Neue, in Millisekundenschnelle weitreichende Entscheidungen zu treffen. So muss ich während des Spielens immer wieder überlegen, ob ich es wagen soll, den nächsten, unaufhaltsam näherkommenden schnellen Lauf mit der gefährlichen Doppelzunge oder doch lieber auf Sicherheit bedacht mit meiner herkömmlichen Zungenbewegung zu artikulieren. Zudem soll ich jetzt anfangen, Stücke, die mir eigentlich auch in ihrer schlichten Form ganz gut gefallen, zu verzieren. Sicherlich werde ich mich irgendwann an diese Praxis gewöhnen. Derzeit stresst es mich aber noch ungemein, während des Spielens ständig entscheiden zu müssen, ob ich bei nächster Gelegenheit eine Phrase in ihrer schlichten Schönheit unverziert lasse oder aber einen kleinen Schlenker einbaue oder einen mittleren oder einen größeren und ob ich ihn von oben oder von unten oder in der Mitte beginne und ob und wenn ja, wie ich den Rhythmus variiere. Manchmal denke ich noch ganz angestrengt über die anstehende Phrase nach, während meine Finger ganz alleine entschieden haben, wie sie verzieren wollen und schon mal in eine Richtung gestartet sind. Es ist dann immer sehr schwierig für mich, Hirn und Finger wieder zu synchronisieren. Meistens schaffe ich das nicht im laufenden Stück sondern muss abbrechen und neu ansetzen.
Die Folgen der bisher beschriebenen Entscheidungen trage ich in der Regel alleine. Es gibt aber auch Entscheidungen, die sich unmittelbar auf einzelne oder mehrere andere Menschen auswirken.
Beim Brötchenholen heute Morgen wollte ein junger, sonnenbebrillter Schnösel mit seinem riesigen schwarzen Monster-Goliath-Geländewagen gerade den Fahrradständer zuparken, als ich mit meinem Fahrrad um die Ecke kam. Normalerweise habe ich genau für solche Gelegenheiten meine Steinschleuder mit dabei und habe mich mächtig geärgert, dass ich sie ausgerechnet heute zuhause vergessen hatte. Der junge Schnösel hat mich nur ganz kurz angeschaut, mir meinen Ärger wohl angesehen und sich dann doch sicherheitshalber dafür entschieden, zurückzusetzen und die Fahrradständer freizugeben. Da hat er eine gute Entscheidung für seine Gesundheit getroffen.
Wenn ich mal einen Tag frei habe, gehe ich ganz gerne in der nächsten größeren Stadt in die ausgedehnte Saunalandschaft mit mehreren unterschiedlichen Saunen. Dabei habe ich bisher hauptsächlich die Außen-Blockbohlensauna mit 90° C genutzt und immer auf meinem Platz oben hinten links in der Ecke gelegen. Die Saunen sind nun vor einiger Zeit renoviert worden und ich weiß nicht, was der zuständige Entscheidungsträger sich dabei gedacht hat, die Bänke in meiner Sauna mit vier Längsbrettern zu gestalten statt mit fünf. Ich kann nicht entspannen, wenn mein Kopf abgeknickt auf einer dieser hölzernen Kopfstützen liegt, daher lege ich mich immer ganz flach hin. Das bedeutet jetzt aber, dass mein Kopf unbequem in der Mittelritze ruht. Wenn ich nach rechts an die Wand rücke, verbrennt mein rechter Arm am Holz. Wenn ich nach links rücke, fällt der linke Arm runter auf die untere Bank. Schief liegen auf der Bank kann ich gar nicht, das fühlt sich so falsch an im Raum, dass ich überhaupt nicht entspannen kann. Wohl oder übel habe ich mir eine andere Sauna gesucht und bin dann jetzt in der Regel hinten rechts in der Erdsauna mit 100° C zu finden. Die Temperatur halte ich ganz gut aus, die Bänke sind mit fünf breiten Längsbrettern außerordentlich komfortabel und hin und wieder kommt ein netter Mitarbeiter herein, der im Kaminofen Holz nachlegt, damit ich es beim alleine vor mich hin Schwitzen auch schön romantisch habe. Es hat sich dann also wider Erwarten doch noch alles zum Guten gewendet.
Wenn wir Eltern werden, treffen wir für unsere Kinder zunächst alle Entscheidungen und sorgen umfassend für ihr körperliches und seelisches Wohlergehen. Dabei sollten die Interessen der Kinder im Mittelpunkt stehen und nicht unsere eigenen. Sobald die Kinder älter werden, beginnen sie mehr und mehr, eigene Entscheidungen zu treffen. Als Eltern muss man es dann akzeptieren und später auch aushalten, dass die Kinder ihre eigenen Fehler machen und so Erfahrungen sammeln können, auf deren Grundlage sie später einmal die für sie richtigen Entscheidungen treffen und Strategien entwickeln können, um nicht immer wieder auf ein totes Pferd zu steigen.
Irgendwann kommt dann vielleicht auch der Zeitpunkt in unserem Leben, an dem wir für andere, uns nahestehende erwachsene Menschen weitreichende Entscheidungen über Leben, mögliches Leiden und den Tod treffen müssen. Das ist nicht einfach und fordert uns auf ganz neue Art und Weise. Entscheidungen erscheinen aber möglicherweise in dem Augenblick äußerst klar und richtig, wenn man selber zurücktritt und die ureigensten Interessen und Wünsche des anderen Menschen in den Mittelpunkt stellt und sich an ihnen orientiert. Hilfreich ist es auch, wenn man derartige Entscheidungen nicht alleine treffen muss. Und dennoch bleiben diese Situationen unendlich schwer. Ich bin sehr froh, dass sich meine Entscheidungen derzeit noch vor allem auf die Wahl der schnellsten Supermarktkassenschlange, den Duft von Kosmetika, den richtigen Müll für Papiergeld, Verzierungen beim Zinken, Anwendung unmittelbaren Zwangs auf junge Schnösel, vier- oder fünfbrettrige Saunabänke und ähnliches beschränken. Das sind zwar alles irgendwie wichtige Entscheidungen, die sich unmittelbar auf mein Wohlbefinden auswirken. Aber manchmal rückt das Leben oder vielmehr der nahende Tod dann doch alles nochmal in eine ganz andere Perspektive und lässt uns spüren, was wirklich wichtig ist.