Menschen nehmen dieselben Dinge oder Vorgänge unterschiedlich wahr. Das kann zusammenhängen mit bestimmten Lebensphasen, Vorlieben oder auch Erfahrungen, die wir in unserem bisherigen Leben gemacht haben. Als wir zum Beispiel in der Familiengründungsphase waren, habe ich im Stadtbild überall schwangere Frauen oder Menschen mit Kinderwagen gesehen. Später, als unsere Jungs alle aktiv Basketball gespielt haben, sind mir vor allem die vielen groß gewachsenen und sportlich durchtrainierten jungen Männer aufgefallen, die mit grauen Jogginghosen, Kapuzenpullovern und Stöpseln in den Ohren schlurfenden Schrittes unterwegs waren. Auf dem Spielfeld haben sie sich dann aber als äußerst agile und athletische Sportler entpuppt, sind verloren geglaubten Bällen hinterhergesprintet und haben sich fast anmutig zu krachenden Dunkings in die Höhe geschraubt.
Auch unsere jeweilige Profession kann unseren Blick auf die Welt verändern. In der Zeit des hohen Zuzugs von geflüchteten Menschen hatte ich beruflich mit Flüchtlingsunterkünften zu tun. Wenn ich in Städten unterwegs war, habe ich freistehende Gebäude oder leere Grundstücke häufig dahingehend begutachtet und kommentiert, dass man dort doch bestimmt noch die eine oder andere Flüchtlingsunterkunft einrichten könnte. Eine Kollegin war neben anderem auch für Brandschutz und Fluchtwege in den Unterkünften zuständig. Die vielen Gespräche mit ihr haben ihre Wirkung auf mich nicht verfehlt. Wenn ich irgendwo in einem Hotel absteige, präge ich mir jetzt tatsächlich immer als erstes den Fluchtweg ein und halte Ausschau nach dem nächsten Feuerlöscher. Meine Kollegin hatte im letzten Jahr ein paar Urlaubstage in München verbracht und zeigte anschließend Fotos. Erwartet hatte ich natürlich Bilder vom Englischen Garten oder der Frauenkirche. Als erstes zeigte sie mir aber ein Beispiel einer besonders gelungenen, weil groß gefertigten und auffällig angebrachten Fluchtwegbeschilderung.

In meinem Pendlerzug lege ich die erste Etappe häufig in Begleitung eines netten Herrn zurück. Er erzählt mir die neuesten Witze und wir tauschen uns über aktuelle politische Entwicklungen oder die Pläne für das nächste Wochenende aus. Er ist gelernter Bauingenieur, jetzt aber in einem anderen Bereich tätig. Die Baubranche hat ihn aber geprägt und ihm fällt im Gegensatz zu mir sofort auf, wenn irgendwelche Linien an Gebäuden oder im Straßenbild nicht hundertprozentig gerade sind.
Nicht nur die visuelle Wahrnehmung kann sich verändern und an die jeweilige Lebenssituation anpassen. Auch die akustische Wahrnehmung kann einem Wandel unterworfen sein. Beim Zinken beschäftige ich mich zum Beispiel gerade damit, die einzelnen Töne der G-Dur Tonleiter in gleichbleibender Qualität zu spielen. Mit dem „a“ dauert das Anfreunden ziemlich lange und ich werte es als Erfolg, dass dieser spezielle Ton nicht mehr immer so klingt als wenn ein Schaf blökt. Mittlerweile reiht sich das „a“ von der Klangqualität her schon hin und wieder mal relativ unauffällig in die Tonleiter ein. Leider ist es aber häufig noch eine Idee zu tief und klingt irgendwie ausgefranst und ich muss gegensteuern, indem ich den Ansatz des Zink in die Diagonale nach oben rechts verändere, die Lippenstellung leicht anpasse und die Nasenlöcher nach oben ziehe und breiter werden lasse. Bei einigen Sequenzen habe ich das schon automatisiert, es klappt aber leider noch nicht immer. Die akustische Wahrnehmung des „a“ und die entsprechenden Reaktionen im Körper haben nun interessanterweise Konsequenzen in einem ganz anderen Bereich meines Lebens, dem Yoga.
Die Yoga Meisterin, bei der ich derzeit Unterricht habe, läutet bestimmte Phasen der Stunde wie zum Beispiel die Tiefenentspannung mit dem wunderbaren Klang einer tibetischen Klangschale ein. Durch meine aktuellen Zinkstudien bin ich nun aber dermaßen darauf trainiert, genau auf Klänge zu hören, dass mir in der letzten Stunde aufgefallen ist, dass die Klangschale wohl auf „a“ gestimmt ist, aber leider etwas zu tief. Das hatte nun die Folge, dass ich, statt in die Entspannung zu gleiten, unwillkürlich versucht habe, durch die Aktivierung meiner Nasenmuskulatur und eine leichte Veränderung der Lippenstellung den Ton nach oben anzupassen. Das hat aber natürlich genauso wenig funktioniert wie die Entspannung an sich.
Jetzt bin ich ein bisschen in einem Dilemma, was ich in den kommenden Yoga Stunden tun soll. Wenn man in einer Situation ist, die sich nicht gut anfühlt, hat man ja grundsätzlich drei Möglichkeiten des Handelns:
- man ändert an der Situation das, was man ändern kann,
- man akzeptiert die Situation voll und ganz so, wie sie ist oder
- man verlässt die Situation
Die dritte Alternative scheidet aus, da ich sehr gerne weiter bei der Meisterin Yoga machen möchte. Akzeptieren kann ich das zu tiefe „a“ aber auch nicht. Das liefe meinen Zinkstudien, wo ich ja eben genau daran arbeite, einen nicht stimmigen Ton nicht einfach hinzunehmen sondern umgehend zu korrigieren, diametral entgegen.
Es bleibt mir also nur, die Situation zu ändern. Auch hier sehe ich wieder drei Möglichkeiten:
- ich kann die Yoga Meisterin bitten, auf die Klangschale zu verzichten. Bei den übrigen Kursteilnehmern habe ich aber mal nachgefragt: der Klang hilft allen anderen bei der Entspannung und ich bin scheinbar die einzige, die sich von der Intonation gestört fühlt. Daher scheidet diese Alternative wohl aus.
- Recherchen im Internet haben ergeben, dass man tibetische Klangschalen durch Abschleifen tiefer stimmen kann, höher stimmen scheint wohl nicht zu gehen. Man sieht es den Schalen dann aber an, dass an ihnen herummanipuliert wurde und man müsste die betreffende Schale ja bis zum „g“ hinunter stimmen. Auf dem Halbton „gis“ fühle ich mich bestimmt auch nicht wohl, da das „gis“ beim Zinken ebenfalls ganz schön knifflig ist.
- es bleibt dann also nur die Möglichkeit, der Yoga Meisterin eine perfekt aufs „a“ gestimmte tibetische Klangschale zu schenken.
Online habe ich nun bei einem seriös wirkenden Händler für Klangschalen ein Exemplar bestellt und extra darauf hingewiesen, dass die Schale hundertprozentig auf „a“ gestimmt sein soll. Bis sie eintrifft, werde ich der Yoga Meisterin unser altes Kinder-Glockenspiel ausleihen, das ich noch auf dem Dachboden gefunden habe. Ich habe es kontrolliert, das „a“ ist rein gestimmt. Der Klang ist jetzt zwar nicht ganz so obertonreich, wie bei einer Klangschale, aber vielleicht stören sich die anderen Kursteilnehmer nicht daran.
Zinken ist wahrlich ein aufreibendes Hobby, das die Wahrnehmungen verändert und sich irgendwie auf alle anderen Lebensbereiche auswirkt!