Kleinigkeiten können unser Leben extrem beeinflussen. Das beginnt schon bei der Zeugung, wenn ein winziger Samen und eine mikroskopisch kleine Eizelle aufeinandertreffen, miteinander verschmelzen und unser Erbgut damit unwiederbringlich festgelegt ist. Unser Geschlecht ist abhängig von minikleinen X- und Y-Chromosomen. Später im Leben können kleine Zufälle unseren weiteren Lebensweg bestimmen. Wenn man in der Schule Pech hat und Unterricht hat bei einem Mathelehrer, der es nicht schafft einen für das Fach zu begeistern und mathematische Zusammenhänge so zu präsentieren, dass sie verstanden werden, kann sich unter Umständen die feste Überzeugung manifestieren, dass man Mathe nicht mag und nicht kann. Das ist mit anderen Fächern natürlich ebenso. Mit viel Glück erschließt sich einem vielleicht später einmal im Leben die Erkenntnis, dass Mathe, Geschichte, Poesie, Sport oder irgendein anderer ungeliebter Bereich doch auch seine Berechtigung hat und gar nicht so beängstigend, langweilig oder unverständlich ist.
Mit dem bloßen Auge nicht sichtbare Bakterien oder Viren können dazu führen, dass man erkrankt oder sich zumindest gesundheitlich beeinträchtigt fühlt. Ein klitzekleiner Splitter im Finger kann gemein schmerzen und sogar eine Entzündung nach sich ziehen. Eine winzige kleine Verschiebung einzelner Wirbel im Rückgrat kann ebenfalls starke Schmerzen hervorrufen und die Beweglichkeit einschränken. Kleinstlebewesen wie z.B. ein Virus können Gesellschaft und Wirtschaft lahmlegen und Abläufe auf der ganzen Welt beeinflussen. Eine kleine Spinne die mich auf meinem Kopfkissen erwartet, wenn ich müde zu Bett gehen will, kann mich augenblicklich hellwach werden lassen und meine Nachtruhe erheblich stören. Eine minimale Veränderung in der Duftnote des jahrelang verwendeten Waschmittels kann dazu führen, dass ich mich den ganzen Tag in meiner frisch gewaschenen Wäsche sehr unwohl fühle. Bei der Homöopathie wird der Wirkstoff so stark verdünnt, dass er eigentlich nicht mehr nachweisbar ist und trotzdem helfen mir zumindest Homöopathische Mittel. Und beim Weinanbau schmeckt jeder Wein und jeder Jahrgang immer wieder anders, das ist u.a. abhängig von den Bodenverhältnissen, dem Zeitpunkt der Ernte, dem Wetter und dem Ausbau.
Das Wetter ist ja nun ein chaotisches System und bei der Entwicklung von Vorhersagemodellen hat man den sogenannten Schmetterlingseffekt entdeckt. Damit ist gemeint, dass im Extremfall der Flügelschlag eines Schmetterlings in China einen Sturm am anderen Ende der Welt verursachen, eine kleinste Veränderung also riesige Auswirkungen haben kann. Unser Wetter ist nicht wirklich ganz genau vorhersagbar und häufig unterscheidet sich das Wetter schon in dicht beieinanderliegenden Nachbargemeinden. Die Wetter-App meines Mannes trifft häufig andere Vorhersagen als meine. Meistens schaue ich aber einfach aus dem Fester um zu sehen, ob die Sonne scheint oder dunkle Regenwolken aufziehen. Auch im chaotischen System „Deutsche Bahn“ gibt es eine unendliche Vielzahl von Kleinigkeiten und natürlich aber auch größeren Störungen, die zu Verzögerungen im Betriebsablauf, zu Verspätungen oder Zugausfällen führen können. Wenn nun zwei chaotisch Systeme aufeinandertreffen („Wetter“ und „Deutsche Bahn“) scheint sich das Chaos noch zu vervielfältigen, das kann man bestimmt auch irgendwie mathematisch berechnen.
Zum Nachdenken gekommen über Kleinigkeiten und wie sie sich auswirken, bin ich wieder einmal durch mein Zinken. Im Unterricht geht es seit langem schon hauptsächlich um winzigste Nuancen, die ich verändern soll um dadurch vergleichsweise riesige Veränderungen im Klangbild und im Spielfluss zu erreichen. Neben rein technischen bzw. körperlichen Komponenten gibt es auch immer Veränderungen in der Vorstellungswelt, die sich auf das Zinken auswirken. Man hört tatsächlich einen Unterscheid, wenn ich beim Zinken einer Solocanzone von Frescobaldi ein humpelndes Kamel vor Augen habe oder aber eine elegante und flinke Gazelle oder eine geschmeidige Raubkatze. Ich habe auch schon ausprobiert, mit der Imagination einer Schnecke zu zinken oder eines träumenden Flusspferdes, aber das musikalische Ergebnis war dann doch eher einschläfernd langweilig. Bei Schlafliedern, die man kleinen Kindern vorsingt, wären diese Vorstellungen vielleicht ganz passend.
In der augenblicklichen, pandemisch bedingten kultur- und konzertarmen Zeit hat mein Zinklehrer begonnen, eigene Zinken zu bauen. Seit gut zwei Wochen bin ich nun schon stolze Besitzerin eines der ersten echten „Gebhard-David-Zinken“. Mein „altes“ Exemplar stammt ja von einem Pariser Zinkbauer und ist in a‘ = 440 Hz gestimmt, mein neuer Zink in a‘ = 466 Hz. Das bedeutet, dass er einen halben Ton höher erklingt. Äußerlich unterscheiden die beiden sich nicht großartig voneinander. Mein altes Exemplar ist mit Pergament umwickelt und daher eher bräunlich während mein neuer Zink mit schwarzem Leder umwickelt ist. Die Holzarten sind unterschiedlich und der 440er ist natürlich schon eingespielt und vertraut. Der 440er ist mit 62 cm ein bisschen länger an der Außenkurve als der 466er (58 cm). Die Löcher beim 440er sind 1 bis 2 Millimeter größer als beim 466er und sie sind beim 440er auch etwas weiter auseinander. Der Außenumfang am untersten Ende der Instrumente beträgt bei beiden 12 cm, der Innendurchmesser ist dort aber mit 2,7 cm beim 466er minimal kleiner als beim 440er (3 cm).
Obwohl die beiden Zinken sich also nur durch Kleinigkeiten unterscheiden, haben sie völlig unterschiedliche Klangfarben und müssen völlig unterschiedlich gespielt werden. Beim Kauf des 466er habe ich unter mehreren Zinken aussuchen dürfen und hatte die Gelegenheit, sie auch auszuprobieren. Es war nachhaltig beeindruckend, dass ich aus einigen keine schönen Töne herausbekommen habe, während andere sich gleich von Anfang an sehr lebendig angefühlt haben und ich ihnen auf Anhieb erste schöne Klänge entlocken konnte. Ein „nackter“, also noch nicht ummantelter, federleichter Zink aus Zypressenholz hatte einen wunderbar zarten, leichten und fast schon ätherischen Klang. Ein anderer, bereits fertiger Zink aus einem schweren Holz hatte ein Vielfaches mehr an erdiger Substanz im Klang und mein „Kleiner“ aus Rotzeder hat einen kernigen Klang, dabei aber mit einer unglaublich hellen Klangfarbe. Er lässt sich aber auch ganz weich spielen und klingt dann, als wenn ein zarter Sonnenstrahl kraftvoll durch eine dichte Wolkendecke dringt.
Mir ist das tatsächlich ein Rätsel, warum die Zinken, die sich ja wirklich nur durch minimale Kleinigkeiten voneinander unterscheiden, derart unterschiedlich klingen.
Auch bei Mundstücken gibt es eine Vielzahl an Varianten.

Mit dem hellen Mundstück, das ich von Anfang an benutzt habe, bin ich sehr vertraut und kann den Klang so formen, wie ich das will. Ich habe ein zweites Mundstück, das vom Außenmaß her genauso klein ist, wie das andere. Es ist aber runder geformt und ich erziele damit einen völlig anderen Klang. Richtig warm geworden bin ich mit dem Mundstück aber bisher nicht. Da ich es nur sehr selten einmal spiele, fühlt es sich, wenn ich es mit der Zunge anfeuchte, jedes Mal so an, als wenn ich einen riesigen Zaubertrankkessel auslecke. Leider ist aber nicht der kleinste Zaubertrankrest im Mundstück vorhanden, der mir beim Zinken und vor allem bei der Doppelzunge helfen könnte. Das bringt mich auf die Idee, doch vielleicht mal in der Apotheke nachzufragen, in welcher Potenz sie Veneficium (Zaubertrank) vorrätig haben oder ob sie das in der C30 für mich bestellen können. Ich bin gespannt, welche riesigen Auswirkungen dieses homöopathische Mittel auf mein Zinken haben wird. Vielleicht spiele ich den Zink dann federleicht wie einen Hinkelstein, hebe ab und betrachte das Römerlager aus der Vogelperspektive oder bewältige vielleicht endlich einmal ganz geschmeidig meine behäbige Doppelzunge.