Pausen

Ende Oktober 2019 habe ich mich mit Pausen beschäftigt. Es geht natürlich um Pausen beim Zinken, aber auch beim Geschichten schreiben und sonst im Leben:

Am Wochenende genießen mein Mann und ich nach Möglichkeit ein gemütliches Frühstück mit Brötchen, Eiern und ausgiebigem Zeitunglesen. Wir hören dabei auch immer meinen Lieblingssender im Radio. Kürzlich wurde dort morgens ein neuer Song vorgestellt. Der Name des Interpreten ist mir entfallen und an Melodie oder Text erinnere ich mich auch nicht mehr. Plötzlich aber war Stille und mein Mann und ich haben beide gleichzeitig von unseren Zeitungen hoch- und uns gegenseitig angeschaut und dann synchron unsere Köpfe in Richtung Radio gedreht. Beide waren wir irritiert über die überraschende Unterbrechung des bis dahin ununterbrochen leise vor sich hinplätschernden Hintergrundgeräusches. Beide dachten wir zuerst, der Radioapparat sei kaputt. Dann ging der Song aber auch schon weiter, er hatte nur einfach an einer Stelle eine unerwartete Pause. Wir waren erleichtert, dass unser Radio noch funktioniert und mussten schmunzeln über unsere identischen spontanen Reaktionen und Gedanken.

Häufig nehmen wir ja die Geräusche, die uns im Alltag permanent berieseln, gar nicht mehr wahr. Dazu zählen z.B. die Hintergrundmusik im Supermarkt, die Fahrgeräusche der Autos auf der Hochstraße vor meinem Bürofenster, das Geklapper der Tastaturen meiner Schriftsätze verfassenden Kolleginnen, zuhause das Brummen unseres Kühlschrankes oder das rhythmische Rauschen der laufenden Spülmaschine. Einige dieser Geräusche fallen mir immer erst dann auf, wenn sie auf einmal fehlen. Es gibt natürlich auch Dauergeräusche, die sehr leise sind und aber trotzdem extrem stören, weil wir nur noch auf den tropfenden Wasserhahn, die tickende Uhr oder die summende Mücke hören, die immer wieder versucht im Ohr zu landen. Diese nervigen Geräusche lenken uns in unserer Ruhe oder beim bewussten Hören von Musik ab.

Auch unsere Augen werden im Alltag leicht mit Dauerreizen überflutet. Wir müssen konzentriert unsere Umgebung sehen, wenn wir im öffentlichen Raum unterwegs sind, sonst stolpern wir über einen Stein, rempeln andere Menschen an, nehmen einen falschen Weg, treten in Hundekot, stoßen einen mitten auf dem Weg abgestellten E-Roller um oder werden von einem rechts abbiegenden Laster überfahren. Beim fokussierten Lesen müssen unsere Augen Höchstleistung vollbringen und Bildschirmarbeit strapaziert sie über die Maßen. Eigentlich müssen wir unseren Augen immer wieder mal Pausen gönnen indem wir sie für eine Weile ganz schließen oder zumindest aus dem Fenster schauen und den Blick einfach schweifen lassen. Noch besser wäre es natürlich, in der Natur unterwegs zu sein und Wiesen, Bäume, das Meer oder den weiten Himmel geruhsam zu betrachten. Mit einem Bildschirmarbeitsplatz mitten in einer Großstadt lässt sich das aber nicht unbedingt leicht verwirklichen.

Unsere Welt ist rhythmisch angelegt mit sich stetig abwechselnden Aufs und Abs. Auf Spannung folgt Entspannung, auf Ebbe die Flut, zwischen zwei Herzschlägen ist eine Pause, es gibt Tag und Nacht, die Natur lebt im Frühling auf und ruht sich im Winter aus und nicht nur wir Menschen benötigen zwingend Schlaf um am nächsten Tag wieder funktionieren zu können. Wir brauchen Pausen, um neue Energie zu tanken.

Das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Pausen kann uns in unserer auf permanente Höchstleistung ausgerichteten Gesellschaft leicht abhandenkommen. Als Folge davon boomen nicht von ungefähr Achtsamkeits- und Entspannungsseminare und Auszeiten in Form von Schnupperwochenenden in Klöstern. Auch mir fällt es manchmal schwer, E-Mails nicht sofort zu lesen und umgehend zu beantworten, im Büro mit geschlossenen Augen zu sitzen und ihnen und mir eine Pause zu gönnen, zuhause auf meiner Liege im Garten zu ruhen und einfach mal gar nichts zu machen während alle Nachbarn um uns herum mit allerlei elektrischen Geräten ihre Gärten pflegen oder auch zu akzeptieren, dass es so etwas wie schöpferische Pausen gibt und die Flut meiner Geschichten gerade abebbt.  

Dass es wichtig ist, Pausen nicht zu ignorieren, sondern sie tatsächlich zu machen, ist mir auch beim Zinken deutlich geworden. Zinken ist ja nun insgesamt fürchterlich anstrengend. Ich soll deshalb kurze Pausen nehmen, wo immer ich das in einem Stück einrichten kann und mich außerdem von der Vorstellung verabschieden, auch wirklich jeden einzelnen langen Ton vorbildlich bis zur allerletzten Millisekunde aushalten zu müssen. Daher übe ich mich aktuell darin, ganz gegen meine sonstigen Gewohnheiten nicht buchstabengetreu an den Noten zu kleben, sondern mir die eine oder andere Freiheit und kleine Pause zu nehmen. Auch beim Einspielen power ich jetzt nicht mehr bis zur völligen Erschöpfung in eins durch, sondern verschnaufe zwischendurch immer mal wieder.

In einem für mich noch sehr anstrengenden und herausfordernden Stück habe ich im letzten Zinkunterricht die notierten Pausen, die sich über mehr als einen Takt erstreckt haben, nicht gemacht, sondern immer verfrüht weitergespielt und den jeweils nächsten musikalischen Abschnitt in Angriff genommen. Natürlich haben diese Phrasen dann nicht so gut geklappt und zum Ende des Stückes ist mir auch insgesamt so ziemlich die Puste ausgegangen. Mein Lehrer hat mir augenzwinkernd zu verstehen gegeben, dass ich das ganze Stück wohl besser hinbekommen hätte, wenn ich die Pausen ausgehalten und dadurch neue Kraft und Energie geschöpft hätte. Also übe ich zuhause jetzt immer alle Pausen mit und zähle geduldig sechsmal bis vier oder wie lang die Pausen eben sind. Ich muss ja zugeben, dass mein Lehrer natürlich Recht hat und ich alle Stücke mit viel mehr Energie spielen kann, wenn ich die Pausen in der richtigen Länge aushalte. Außerdem reichen meine Energie und Spannung dann auch – meistens jedenfalls – bis zum Ende des Stückes.

Das Implementieren neuer Verhaltensmuster dauert ja in der Regel so um die 21 Tage, in denen man das neue Verhalten konsequent ausführen muss. Dieser Zeitraum kann sich reduzieren, wenn einem die neue Verhaltensweise leichtfällt, er kann sich aber auch deutlich verlängern. Ich bin gespannt, wie lange ich dafür brauchen werde, um Pausen wie selbstverständlich ins Zinken einzubauen. Später kann ich in einem zweiten Schritt dann auch üben, Pausen in meinen sonstigen Alltag mit aufzunehmen indem ich beispielsweise im Büro die Augen zumache oder mich nicht mit einem schlechten, sondern mit einem guten Gewissen auf meiner Gartenliege ausruhe während die Nachbarn Rasen mähen oder ihre Gärten und Auffahrten mit dem Laubsauger säubern.

Verrückt eigentlich, dass ich das „Pause machen“ und „Pausen aushalten“ überhaupt erstmal wieder lernen und üben muss!

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