Nach einem wunderbaren Urlaub bin ich nach einer Woche Arbeit und Terminen nun wieder in meinem Alltagstrott angekommen. Am Wochenende muss ich dringend frisches Brot backen. In der Regel backe ich immer gleich eine große Menge auf einmal und friere einen Vorrat für die nächsten Wochen ein. Dieser Vorrat ist nun aber aufgebraucht.
Für die Teiglockerung von selber gebackenem Vollkorn-Roggenbrot benötige ich Sauerteig. Meinen derzeitigen Sauerteig pflege ich schon seit einigen Jahren und die meiste Zeit steht er zufrieden im Kühlschrank in seinem Glas vor sich hin. Vor einigen Wochen habe ich ihn aber tatsächlich mal in ein neues Glas umziehen lassen, weil der Deckel des alten Glases nach Jahren des Gebrauchs nicht mehr so ansehnlich war. Angesetzt habe ich den Sauerteig seinerzeit selber und finde es nach wie vor faszinierend, dass aus wenigen einfachen Zutaten und mit genügend Zeit und den richtigen Rahmenbedingungen etwas Prickelndes und Neues entstanden ist. Bei Gelegenheit muss ich doch vielleicht meinen Chemie-studierenden Sohn mal fragen, wie das eigentlich funktioniert mit der Gärung.
Wenn ich den Sauerteig einige Wochen nicht benötigt habe, fällt er in sich zusammen und verfärbt sich gräulich und das enorme Potential, das in ihm steckt, sieht man ihm gar nicht an. Wenn ich ihn dann aber aktiviere indem ich ihn einem Brei aus Roggen und Wasser beimische und ihm dann bei genügend Wärme ausreichend Zeit gebe, lebt er förmlich auf. Er füllt den bis dahin unbelebten Teigbrei mit Leben und bringt ihn zum Gären, Brodeln und Schäumen.

Je nach Rezept nach ein oder zwei Tagen nehme ich dann von dem Gemisch eine Portion ab, fülle sie in ein Glas und stelle den neuen Ansatz wieder in den Kühlschrank. Dort wächst sein Volumen in der Regel zunächst noch weiter an. Es ist mir auch schon passiert, dass ich das Glas zu voll gefüllt habe. Der Sauerteig hat dann mit all seiner Kraft den Deckel abgesprengt, ist übergeschäumt und ich durfte den Kühlschrank saubermachen. Nach einiger Zeit beruhigt sich der Ansatz dann aber, fällt in sich zusammen, färbt sich wieder gräulich und wartet geduldig auf den nächsten Einsatz. Den restlichen Teig, von dem ich den Ansatz abgenommen habe, verarbeite ich weiter zu frischem, lockerem und das ganze Haus mit seinem köstlichen Duft erfüllendem Bio-Vollkorn-Sauerteigbrot.
Über die Tatsache, dass quasi aus dem Nichts und aus einfachen Zutaten etwas Neues entstehen kann, das vorher noch nicht da war, habe ich kürzlich in anderen Zusammenhängen nachdenken müssen. Meine Schwester hat mir ein Foto ihres Enkelkindes zugesandt, das ihn konzentriert beim Malen mit dem Tuschkasten zeigt. Untertitelt ist das Foto mit den Worten: „Das erste Mal …“. Es ist ja gerade für Kinder eine faszinierende Erfahrung, dass sie durch ihr eigenes kreatives Tun eine sicht- oder auch hörbare Spur in der Welt hinterlassen können, etwas erschaffen können, das vorher noch nicht da war und das dann aber Bestand hat und von Eltern und Großeltern bestaunt und bewundert werden kann. In der Erziehung ist es eine große Herausforderung, die Freude und Begeisterungsfähigkeit von Kindern an ihrer ureigenen Kreativität ins Erwachsenenalter hinüberzuretten. Unbedachte Äußerungen von begleitenden Erwachsenen (seien es nun Familienangehörige, Erzieher oder Lehrer) über kreative Prozesse oder ihre Produkte können verheerende Folgen haben. So hat die Klassenlehrerin unseres mittleren Sohnes in der Grundschule sein getuschtes Bild eines Vogels als einziges aus der Klasse nicht aufgehängt, weil sie es nicht gelungen fand. Er meint bis heute, er könne nicht malen. Und viele Menschen erzählen von nahezu traumatischen Erlebnissen beim Vorsingen-müssen in der Schule. Dadurch hat sich bei ihnen die feste Überzeugung manifestiert, sie seien eben nicht musikalisch, da könne man nichts machen.
Kreativität im künstlerischen Bereich kann dazu führen, dass auf oder aus einem leeren Blatt Papier ein farbenfrohes Bild entsteht oder vielleicht auch eine rudimentäre Bleistiftskizze, ein Papierflieger, ein Brief, ein Notenblatt, eine Siegerurkunde, Weihnachtsbaumschmuck, eine Geschichte, der Abdruck einer Kinderhand, Konfetti oder, oder, oder. Ein leerer Raum kann sich mit Klängen füllen, oder mit Musik, mit Geräuschen, Gerüchen, Stille, Gesprächen, gespannter Atmosphäre, Emotionen, Ruhe oder, oder, oder. Und dann gibt es ja noch die Alltagskreativität, die einen befähigt, bei Problemen auch mal querzudenken und unerwartete Lösungen zu finden, oder beim Brotbacken dem Teig Sesam zuzusetzen, oder Leinsaat, Haferflocken, Oliven, Zwiebeln, Kartoffeln, Zuckerrübensirup, Kräuter oder, oder, oder.
Beruflich beschäftigt mich gerade der Fall eines körperlich und geistig schwerstbehinderten 14-jährigen Mädchens, das liebevoll von seinen Eltern und einem Helferteam gepflegt und umsorgt wird. Aus den ganzen bedrückend zu lesenden Befundberichten der Ärzte ist mir die Aussage nahegegangen, dass sie gerne ihre Arme bewege und mit einer raschelnden Tüte hantiere.
(…)
Wir werden mit kreativem Potential geboren und tragen es in uns. Ich glaube, dass uns auch das Bedürfnis und die Freude daran, uns kreativ zu betätigen und auszudrücken und eine sicht- oder hörbare Spur in der Welt zu hinterlassen, angeboren ist. Aus einigen Menschen sprudelt die Kreativität zeitlebens nahezu ungebremst heraus. Bei anderen Menschen ist sie vielleicht länger nicht benutzt, in sich zusammengefallen, gräulich verfärbt und unbeachtet und längst vergessen irgendwo ganz hinten im Kühlschrank abgestellt. Die Urkraft ist aber erhalten geblieben und hat überlebt und bei passender Zeit und günstigen Rahmenbedingungen kann das Potential plötzlich und unerwartet seine ganze Kraft entfalten, überschäumen, Deckel absprengen, Neues erschaffen, Probleme lösen, länderübergreifende fridays for future Bewegungen initiieren und weitertragen und vielleicht manchmal auch ein bisschen die Welt verändern.