Im März 2022 habe ich teilgenommen an einem Workshop der Hochschule für Künste in Bremen für Zinken, Barockposaunen und Barocktrompeten. In der ersten Ensemble-Probeneinheit zusammen mit anderen Zinken und Posaunen war ich noch ein wenig nervös und angespannt und das hatte für mein Zinken zur Folge, dass ich tendenziell zu hoch gespielt habe. Nach einem Hinweis meines Lehrers habe ich mein Instrument durch das Herausziehen des Mundstückes etwas verlängert um es tiefer zu stimmen und darüber hinaus meine Klänge durch ein Hinunterziehen des Unterkiefers tiefer gefärbt. Die Intonation passte dann erfreulich gut.
In einer weiteren Probeneinheit haben wir anschließend bei einer anderen Dozentin ein Stück für jeweils zwei Zinken, Trompeten und Posaunen gespielt. Zusammen mit der ersten Trompetenstimme hatte ich in diesem Stück ein paarmal ein ganz hohes C (c‘‘‘) zu spielen und die Intonation war nicht so prickelnd. Der Trompeter und ich haben gleichzeitig unsere Klänge verändert und versucht, die richtige Intonation hinzubekommen. Da ich ja vorher gelernt hatte, dass ich immer zu hoch bin, habe ich folglich meine Töne nach unten korrigiert aber es passte nie so wirklich. Die anfänglichen allgemeinen und sehr diplomatisch vorgebrachten Hilfestellungen der Dozentin haben mir nicht wirklich weitergeholfen und der Trompeter und ich haben zunehmend verzweifelt versucht, unsere hohen Cs übereinander zu bekommen. Endlich kam dann die entscheidende und deutliche Ansage der Dozentin: ich war gar nicht zu hoch, sondern zu tief und hatte meine Tonhöhe daher immer in die verkehrte Richtung verändert. Nachdem das dann geklärt war, konnte ich meinen Klang in die richtige Richtung korrigieren, das Mundstück wieder weiter ins Instrument hineinschieben und schließlich auch noch einen anderen Griff benutzen (ein Loch weniger abdecken). Ab da hat es dann alles gut gepasst!
Fürs Zinken habe ich mir ja mittlerweile einen prall gefüllten Werkzeugkoffer erarbeitet mit Tools für Klangveränderungen in alle Richtungen. Viele der Werkzeuge haben ganz individuelle Namen. Einige Komponenten steuere ich dabei gezielt an wie das Hochziehen des Gaumens hinten oben, um die Klänge heller und höher zu spielen (= Zeltdach). Ein Heller-Färben funktioniert im Übrigen auch mit einem Anheben der Zungenwurzel ganz hinten oder einem Breiterziehen der Nasenlöcher. Ich kann die Tonanfänge durch verschiedene Techniken unterschiedlich gestalten und artikulieren. Tonenden kann ich, anstatt sie unschön abzuquetschen, durch ein Offenhalten des Halses sanft ausklingen lassen (= Ochsenfroschhals). Für kurze Töne sind ein hohes Maß an Spannung und ein schneller Luftstrom notwendig (= Turboboost). Ich muss mir nur immer vorher klar darüber sein, welches Ziel ich erreichen will, damit ich auch das richtige Werkzeug anwende. Sonst kann es eben passieren, dass ich das komplett falsche Tool benutze und das Gegenteil von dem erreiche, was ich wollte oder was notwendig wäre.
Das ist ja im Übrigen nicht nur beim Zinken so. Ganz allgemein sollte man wissen, welches Ziel man erreichen will um dann zu entscheiden, was dafür ein passendes Werkzeug sein könnte. Beim Essen hat man, sofern man nicht mit den Fingern isst, die Auswahl zwischen den Bestecken Messer, Gabel, Löffel oder Stäbchen. Wählt man bei Suppe das falsche Besteck, bleibt man hungrig. Meine Zahnärztin hat jede Menge Spezialwerkzeug und muss einen Zahn nicht mit einer Schlagbohrmaschine aufbohren oder mit einer groben Kneifzange ziehen. Es gibt ja viele verschiedene Werkzeuge zum Greifen (Finger und Daumen, Pinzette, Kombizange, Kneifzange, Rohrzange, Nudelzange, Müllgreifer, Baggerschaufeln …). Wenn ich mir einen Splitter aus dem Finger ziehe, sollte ich mir die passende Greifhilfe auswählen, damit kein schlimmerer Schaden entsteht.
Auf einem Workshop im Sommer 2021 habe ich mit dem Zink-Dozenten an einer Sonate von Cesare gearbeitet. Die ist ziemlich anstrengend und ich habe an einer Stelle den Schlusston einer Phrase unschön abgequetscht und bin ein bisschen drüber hinweggehudelt um pünktlich und akkurat die neue Phrase zu beginnen. Diesen Anfang habe ich dann aber auch nicht so schön hinbekommen, wie geplant. Einen Neuanfang auf Kosten eines verhuschten Abschlusses zu beginnen funktioniert beim Zinken und auch wohl sonst im Leben nicht. Der Dozent hat mich dann aufgefordert, den Abschlusston der Phrase liebevoll zu gestalten und mir ein kleines Herzchen über die Note gemalt. Interessanterweise kann ich nicht wirklich definieren, welche Werkzeuge ich alle aktiviert habe, um den Klang liebevoll zu gestalten, aber funktioniert hat es. Ich musste nur immer an der Stelle kurz das Herzchen ansehen und schon habe ich ganz in Ruhe und sorgsam die Schlussnote gestaltet und die neue Phrase begonnen. Irgendwie hat sich durch das Herzchen meine innere Haltung der Stelle gegenüber geändert und das hat sich klanglich ausgewirkt.
Seitdem male ich mir Herzchen über entscheidende Noten und es werden mehr und mehr. Wenn man es mal genau betrachtet sind ja nicht nur Endnoten sorgsam und liebevoll zu gestalten, sondern eigentlich jede einzelne Note in einem Stück.
In einer der letzten Ensembleunterrichtsstunden lobte mich der Lehrer, dass ich das Ende einer Phrase, an der wir gearbeitet hatten, besonders schön gestaltet hätte. Da habe ich erklärt, dass die Endnote ja auch eine Herzchennote sei. Ich war ein wenig irritiert, dass Bassdulcian und Posaune meine Aussage sehr erheiternd fanden. Im weiteren Verlauf kamen wir dann aber darauf zu sprechen, dass sie zwar Herzchennoten, Ochsenfroschhals und Turboboost als Werkzeuge für ihre Instrumente nicht kennen, aber natürlich ebenfalls bestimmte Tricks und Tools haben, um ihre Klänge in eine gewünschte Richtung zu formen. Bei ihnen funktionieren andere Werkzeuge als bei meinem Zink. Spannend ist es, sich im Ensemble zu einigen, welches Ziel wir erreichen wollen bei der musikalischen Gestaltung eines Stückes und zu realisieren, welche instrumentenbezogenen Werkzeuge wir dafür jeweils zur Verfügung haben. Der Bassdulcian muss für ein ähnliches Klangergebnis ganz was anderes machen als die Posaune oder ich mit dem Zink.
Häufig geht es mittlerweile gar nicht mehr so sehr um ein Höher, Tiefer, Länger oder Kürzer der Töne, sondern um den musikalischen Ausdruck und die Artikulation. Wir wollen eine Stelle dann schwingend spielen oder tupfig oder breit oder tänzerisch oder oder oder. Gemeinsame Bilder bzw. Vorstellungen helfen bei der gemeinsamen musikalischen Gestaltung eines Stückes.
Auch andere Menschen, mit denen ich zusammen musiziere schmunzeln häufig, wenn ich von Herzchennoten spreche. Ich nehme an es liegt daran, dass das Bild für sie neu und ungewohnt ist. Nach meiner Auffassung ist es aber richtig und wichtig, sich sorgsam und liebevoll um etwas zu kümmern, auch wenn es nur so ein winzig kleines Detail wie eine Schlussnote einer Phrase in einem Musikstück ist. Ich versuche, auch sonst in meinem Leben mehr Herzchen einzubauen, mich also zunehmend sorgfältig und zugewandt um Dinge zu kümmern. Bei meinem Zinken sehe ich jeden Tag in meinen Noten viele kleine Herzchen und das erinnert mich immer wieder aufs Neue daran, dass ich nicht nur liebevoll zinken möchte, sondern mein ganzes Leben so gestalten will, als wenn es aus lauter einzelnen Herzchennoten komponiert ist. Ich weiß nicht genau, welche Tools in meinem Inneren alle aktiviert werden, wenn ich mir vornehme, etwas liebevoll zu betrachten, zu gestalten oder anzunehmen. Aber irgendwie hat sich durch die vielen gedachten Herzchennoten meine innere Haltung verändert und das wirkt sich positiv auf mein Leben aus.
Durch Schmunzeln oder Erheiterung über meine Herzchen werde ich mich daher künftig nicht mehr irritieren lassen und mich wo immer es geht aktiv einsetzen für „Mehr Herzchennoten im Leben“!