In unserem alltäglichen Leben betrachten wir es als selbstverständlich, dass viele Bewegungsmuster automatisiert abgerufen werden können. Besonders viele und grundlegende Bewegungsabläufe erlernen wir im frühkindlichen Stadium, so zum Beispiel die Auge-Hand-Koordination, Sitzen, Stehen, Laufen oder Sprechen. Während der Wachstumsphasen muss sich der Körper dann später immer wieder auf veränderte Bedingungen einstellen.
Viele Bewegungen führen wir völlig unbewusst aus und wissen auch gar nicht mehr, wie wir sie erlernt haben. Einige Automatismen haben wir uns im Verlaufe unserer persönlichen Entwicklung aber auch ganz bewusst, zum Teil unter Anleitung von Eltern oder Lehrern, antrainiert und können sie unser Leben lang abrufen. Dazu gehören Fertigkeiten wie z.B. Essen mit Messer und Gabel, Schleife-Binden, Schreiben, Fahrradfahren, Schwimmen oder Autofahren. Mein Fahrlehrer hatte uns Fahrschülern dabei seinerzeit die Wichtigkeit des Schulterblickes sehr eindringlich vermittelt. Er erzählte uns bei jeder Gelegenheit, dass er, selbst wenn er aus der Badewanne steige oder nachts mal zur Toilette müsse, kurz über die Schulter zur Seite schaue. Das fand ich so einprägsam, dass auch ich mir angewöhnt habe, nicht nur beim Blinker-Setzen während des Autofahrens, sondern auch bei diesen anderen Gelegenheiten den Schulterblick aktiv zu praktizieren. Tatsächlich bin ich seither, wenn ich denn mal nachts aus dem Bett aufstehe, auch noch nie mit jemand anderem zusammengestoßen und auch im Bad ist es noch nicht zu nennenswerten Unfällen gekommen.
Beim Erlernen eines Musikinstrumentes ist es notwendig, Bewegungsabläufe zu automatisieren und, vor allem wenn es sich um ein Blasinstrument handelt, die Bewegungen mit der Atmung zu verbinden. Dabei müssen die Bewegungen des ganzen Körpers präzise aufeinander abgestimmt werden und je differenzierter und unabhängiger einzelne Körperpartien angesprochen und gesteuert werden können, desto besser wird in der Regel das Klangergebnis sein.
Bei dem Orffschen Instrumentarium ist dies noch verhältnismäßig einfach, gefordert ist lediglich eine gute Auge-Hand-Koordination. Beim Erlernen von Tasten- oder Streichinstrumenten spielt die Atmung anfangs im Elementarbereich keine große Rolle, so dass erstmal nur die Finger beider Hände oder die Finger der einen Hand mit den Bewegungen des anderen Arms zu koordinieren sind. Bei Blasinstrumenten kommt als nächste Dimension auch schon von Beginn an die Atmung hinzu.
Der Zink stellt mit seinen besonders komplexen, ausgefeilten und detailreichen Bewegungsabläufen alle anderen mir bekannten Musikinstrumente weit in den Schatten. Seit bald zwei Jahren plage ich mich nun schon mit diesem Instrument herum. Das erste Jahr habe ich damit verbracht, Atmung, Ansatz und Haltung des Instrumentes, Lippenspannung, Ausformung der Mundhöhle, Stütze, Luftführung, Spannung in der Brust und insgesamt die Körperhaltungen und -bewegungen so aufeinander abzustimmen, dass relativ verlässlich ein erkennbarer Ton erklingt, wenn ich den Zink anblase. Nachdem ich diese Hürde geschafft habe, arbeite ich nun im zweiten Jahr daran, die Klangqualität durch gezielte Veränderungen einzelner Komponenten immer weiter zu veredeln und die differenzierten und genau auf jeden einzelnen Ton abgestimmten optimalen Haltungen herauszufinden, abzuspeichern und zu automatisieren. Es geht allerdings immer noch ein kleines bisschen schöner, so dass dieser Prozess wohl nie ganz abgeschlossen sein wird.
Darüber hinaus gilt es, jegliche Verbindungen von zwei Tönen zu üben und zu optimieren, damit ich irgendwann nicht mehr nur einzelne Klänge spielen, sondern die Töne vielleicht idealerweise auch einmal zu einer kleinen Melodie zusammenfügen kann. Zu berücksichtigen ist, dass die nach oben ausgerichteten Intervalle anders auszuführen sind als Tonübergänge nach unten. Allein bei den acht Tönen der G-Dur-Tonleiter ergeben sich damit insgesamt 56 mögliche Tonverbindungen, die einzeln zu automatisieren sind. Betrachtet man jetzt den gesamten Tonumfang des Instrumentes bis hin zum ganz hohen C, vervielfacht sich die Zahl nach meiner Rechnung noch einmal auf insgesamt 702 theoretisch zu meisternde einzelne Tonverbindungen, wobei die Tonsprünge, die größer sind als eine Oktave in der Praxis vielleicht doch ein wenig zu vernachlässigen sind.
Dann gibt es auch noch eine ausgesprochen komplexe und herausfordernde Technik als Voraussetzung für eine lockere und leichte Artikulation zu lernen, zu üben und zu verinnerlichen. Dabei handelt es sich um ein kompliziertes, sich verselbstständigendes Ineinandergreifen von Zwerchfellimpuls, Luftführung, Mundraumstellung und Zungenschlag, das bei stetiger Wiederholung einen vorwärtsstrebenden Sog entwickeln kann.
Vorerfahrungen mit Bewegungsabläufen in Kombination mit der Atmung habe ich als sozusagen vereinfachte elementare Grundstufe beim Yoga erworben. Dort gibt es neben den statischen Haltungen (Asanas) auch ineinander übergehende Abfolgen von Stellungen wie zum Beispiel den Sonnen-, den Mond- oder den Morgengruß. Bei diesen Bewegungsfolgen ist dann als zusätzliches Element immer auch die Atmung an die einzelnen Haltungen gekoppelt. Bei einer stetigen Wiederholung der Bewegungen kann man hier durchaus schon mal in einen meditativen „flow“ geraten.
Eine Zeit hatte ich Unterricht bei einer Yoga Meisterin, die spürbar Freude daran hatte, uns immer wieder neue Asanas näher zu bringen. Neben den bekannten Stellungen wie „Hund“, „Katze“, „Krokodil“ oder „Kobra“ habe ich bei ihr auch exotischere wie „Krähe“, „Schildkröte“, „Happy Baby“ oder „Heuschrecke“ kennen gelernt. Eines Tages kündigte sie an, dass wir im Kurs den „Floh“ lernen würden. Wir sind dann einige Asanas durchgegangen und ich habe immer ungeduldiger auf die neue Stellung gewartet, da ich neugierig war, was sich da wohl hinter verbergen mag. Irgendwann habe ich nachgefragt, wann sie uns denn nun den „Floh“ zeigt. Geerntet habe ich großes Gelächter der ganzen Gruppe, da die Yoga Meisterin uns einen „flow“, also eine Bewegungsabfolge beibringen wollte, und da waren wir längst mittendrin im Üben. Ausgehend von dieser Erfahrung hoffe ich ja nun, dass ich eines Tages beim Zinken feststelle, dass ich einige der komplizierten Bewegungsabläufe schon längst einfach praktiziere ohne das zu merken und dass ich bereits mittendrin bin im Üben, während mein Kopf noch dabei ist, die einzelnen Schritte zu identifizieren und zu benennen. Und – wer weiß – vielleicht finde ich mich ja sogar eines Tages unversehens in einem musikalischen „Zinkflow“ wieder und spiele richtige Melodien auf diesem Instrument.