Schon als Kind habe ich gerne gepuzzelt. Ich mochte und mag es immer noch, Dinge in eine Ordnung zu bringen, so dass ein stimmiges Bild entsteht. Bei größeren Puzzles mit 1.000 oder mehr Teilen ist das nicht immer ganz einfach. Hilfreich ist eine Strategie, dass ich also z.B. erst die Randteile heraussuche und zu einem Rahmen zusammenpuzzle. Dann gehe ich meist nach Farben vor, suche ausgehend von dem Motiv alle Puzzleteile mit der passenden Färbung heraus, versuche sie richtig zusammenzulegen und puzzle mich auf diese Art dann von verschiedenen Stellen des Randes aus in die leere Mitte vor, bis sich alle Lücken geschlossen haben, alle Teile verbraucht sind und das Puzzle das vorgegebene Bild zeigt. Am fertigen Ergebnis freue ich mich kurz und zerstöre das Puzzle dann aber in der Regel gleich wieder. Nach einer gewissen Zeit kann ich es dann erneut hervorholen und mich ein weiteres Mal damit beschäftigen.
Das Puzzeln selber beruhigt und entstresst mich. Im beruflichen Umfeld schliddern meine Kolleg:innen und ich gefühlt von einer Katastrophe in die nächste. Durch permanente und schon länger andauernde Überlastungen sind wir im Team mittlerweile recht dünnhäutig geworden und haben den ständig neuen Hiobsbotschaften in unseren wöchentlichen Dienstbesprechungen wenig entgegenzusetzen. Seit wir nach Corona unsere Besprechungen wieder in Präsenz durchführen beruhigt es mich, währenddessen zu puzzeln. Unsere Chefin hat uns 1.000er Puzzles zur Verfügung gestellt und zusammen mit zwei/drei anderen Kolleg:innen arbeiten meine Finger und ein Teil meiner Aufmerksamkeit kollegial, harmonisch und konstruktiv an der Vervollständigung des jeweiligen Motives. Auf unser Tempo kommt es dabei im Gegensatz zu unserem beruflichen Alltagsgeschäft nicht an. Das Weihnachtspuzzle haben wir irgendwann Anfang November 2023 begonnen und ich bin gespannt, ob wir es vor Juli 2024 fertig haben. Aber das ist völlig egal. Die permanenten schlechten Nachrichten zu einer weiteren Verschärfung unserer Situation ertrage ich entspannter, wenn ich gleichzeitig mit Puzzeln beschäftigt bin. Dabei bin bin keineswegs unaufmerksam. Mein Gehirn scheint während des Puzzelns irgendwie eine Art Filter für die Informationen von außen aktiviert zu haben. All das, was ich sowieso nicht ändern kann, höre ich mir mit Gleichmut an und schalte mich aber gezielt da in die Diskussion ein wo es nötig ist und wo mein Wortbeitrag eine sinnvolle Ergänzung, Erweiterung oder Zusammenfassung des Gespräches beinhalten kann. Durch das Puzzeln komme ich wesentlich stressfreier und unbelasteter durch unsere wöchentlichen Zusammenkünfte.
Beim Zinken puzzle ich täglich an meinem Zinkklang herum. Es gibt eine Unzahl von einzelnen Variablen, die ich jeden Tag bei jedem einzelnen Ton wieder neu bzw. anders zusammensetzen muss, um meinen schönen Zinkklang bei jeder Gelegenheit zu behalten. Es gibt ja Unmengen von Störfaktoren, die einem schönen Klang entgegenwirken: zu wenig innere Spannkraft, zu wenig Energie, zu wenig oder zu viel Entspannung oder Anspannung, ein Backstein im Mund statt einer geschmeidigen Doppelzunge, zu viel oder zu wenig Luft, ein unkontrollierter Luftstrom, zu wenig Flexibilität im Brustraum, Hals oder Mundhöhle, nachlassende Lippenspannung etc. In meinem Zinklexikon habe ich viele der einzelnen Bausteine für einen schönen Klang gelistet.
Störfaktoren lauern aber auch im Notentext und erschweren es, den schönen Zinkklang für die Dauer eines Stückes stetig beizubehalten. Bei langen Noten ist es z.B. schwierig, die Spannung zu halten, bei vielen kurzen hintereinander aber auch. Punktierte Noten sind mit viel Energie zu nehmen, wenn sie auftaktig gespielt werden aber eher beiläufig und mit viel Luft, wenn die kurze Note als Accento, also als kleine, an die lange Note angehängte Verzierung interpretiert wird. Laute Töne sind schwierig, weil die Intonation trotz höherem Luftfluss konstant bleiben sollte. Und am allerschwersten überhaupt ist für mich das Leisespielen. Um nicht mit einem kläglichen Klang zu zinken, muss man unglaublich viel mehr Energie und Spannung aufwenden als beim Zinken in einem satten Mezzoforte aber gleichzeitig den Luftstrom kontrolliert extrem zurückhalten. Nach ein paar Takten in einem anhörlichen Pianissimo bin ich in der Regel nassgeschwitzt und völlig ausgepumpt.
Die einzelnen Puzzleteile des Zinkens muss ich also je nach Situation immer wieder anders zusammenpuzzeln, um ein gleichbleibendes Klangergebnis zu erreichen. Aber dann geht es ja mit dem eigentlichen Puzzeln erst los. Will ich denn eine Punktierte auftaktig oder als Accento spielen? Und wie will ich eine bestimmte Stelle musikalisch gestalten? So wie ein Eisbär geht (legato) oder munter springend wie eine Gazelle? So puzzle ich also, wenn ich ein Stück für mich erarbeite, alle Puzzleteile immer und immer wieder anders zusammen und probiere aus, wie es (jetzt gerade) für mich am schönsten und stimmigsten klingt. Ich puzzle also sozusagen zu meiner Zinktechnik in der ersten Dimension meine musikalische Interpretation in der zweiten Dimension dazu. Und wenn ich dann noch mit anderen Leuten zusammen musiziere wird es ganz verrückt. Da es ja sein kann, dass meine legato Eisbär-Stelle von jemand anders als geschmeidige Katzen-, muntere Gazellen-, quakige Enten- oder behäbige Walrossstelle interpretiert wird, müssen wir alle gemeinsam die Musik in der dritten Dimension zusammenpuzzeln. Bloß gut, dass ich beim Puzzeln grundsätzlich aufmerksam sein kann und irgendein ominöser Filter in meinem Hirn beim Puzzeln wichtige Informationen von unwichtigen trennt. So funktioniert das gemeinsame Musizieren für mich meistens ganz gut.
Schwierig für mich ist es noch manchmal, dass ich häufig in festen Rahmen denke. Wenn ich einmal ein Stück gehört und für gut befunden habe, will ich es in der Regel ganz genauso reproduzieren und gebe mir selber wenig Raum für Variationen. Ich kenne Musiker:innen, die sich mit dem Anhören von Stücken auf CDs oder bei youtube auf eine Probe vorbereiten. Für mich persönlich passt das nicht, weil ich dann eine feste Vorstellung bzw. ein festes Bild davon habe, wie sich die Musik anzuhören hat. Dieses Bild versuche ich dann nach zu puzzeln und bin nicht mehr offen dafür, dass ein Stück vielleicht auch ganz anders gestaltet und interpretiert werden kann.
Zinken hat für mich Ähnlichkeit mit Tangram. Bei diesem alten chinesischen Puzzle aus sieben geometrischen Teilen, die sich aus der Unterteilung eines Quadrats ergeben, kann man ja eine unendliche Anzahl von Figuren legen. Die Grundbestandteile sind beim Zinken und beim Tangram immer gleich und der Reiz liegt darin, sie immer wieder verschieden zusammenzusetzen und dadurch unterschiedlichste Bilder bzw. Emotionen oder Affekte zu erzeugen.

Gut also, dass ich privat gerade mein 1.000er Puzzle mit beruhigendem Naturmotiv fertiggestellt habe und nun die Schachtel mit dem Tangram aus dem Regal holen kann. Als erstes gehe ich dort die geschmeidigen Katzenmotive an. Gazelle, Ente, Walross und Eisbär habe ich in dem Anleitungsheft noch nicht gefunden, muss mir diese Motive also wohl selber irgendwie zurechtpuzzeln. Aber vielleicht finde ich die dabei zufällig entstehenden abstrakten Formen auch viel schöner.
Und wer weiß, vielleicht ist das ja nicht nur beim Zinken und beim Puzzeln mit den Tangram Elementen so, dass das fertige Ergebnis noch gar nicht unbedingt feststehen muss, sondern dass es vielmehr auf das Tun im Jetzt, den Gestaltungsprozess an sich ankommt. Egal wo das so hinführt im Leben. Und wenn ich aus Versehen doch mal einen kläglichen Klang beim Zinken produziere, dann benötige ich vielleicht genau diesen Klang als Puzzleteil irgendwann, wenn ich das Bild einer Ente im Kopf habe, die im Bauch eines Wolfes leise vor sich hin quakt und ich beim Zinken genau diesen Affekt nachstellen möchte.
Jetzt bin ich bloß gespannt wie das wohl wird, wenn ich nach Fertigstellung des Weihnachtspuzzles in der darauffolgenden Dienstbesprechung ein anregendes Tangram-Puzzle auf den Tisch lege. Mal schauen, was wir uns dann als Team so zurecht puzzeln.
